Kinderpsychologe über RTL-Sendung:"Die Kinder sind uns egal"

Im Streit um die Baby-Teenie-Sendung "Erwachsen auf Probe" nimmt der Hannoveraner Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann RTL in Schutz - und ist wütend auf die Kritiker.

Ruth Schneeberger

sueddeutsche.de: Herr Bergmann, können Sie die Aufregung um die Sendung "Erwachsen auf Probe" verstehen?

Kinderpsychologe über RTL-Sendung: Die "Show "Erwachsen auf Probe" läuft nach vielen Protesten am Mittwoch Abend auf RTL.

Die "Show "Erwachsen auf Probe" läuft nach vielen Protesten am Mittwoch Abend auf RTL.

(Foto: Foto: RTL)

Wolfgang Bergmann: Ja, natürlich - aber aus anderen Gründen als denen, die der politische Mainstream anführt.

sueddeutsche.de: Inwiefern?

Bergmann: Da ist eine moralische Doppelbödigkeit im Spiel, die einem so ins Auge fällt, dass ich mich regelrecht wundere. Die ewig gleichen Institutionen empören sich an den immer selben Punkten und schießen gegen RTL. Da wird so eine hohe Unwahrhaftigkeit an den Tag gelegt, dass ich zunehmend nervös werde.

sueddeutsche.de: Was dem Sender hauptsächlich vorgeworfen wird, ist, dass auf Kosten von erhoffter Quote Kleinkinder und Babys instrumentalisiert werden, ohne auf die nötige Bindung von Mutter und Kind zu achten.

Bergmann: Wer sich über gestörte oder fehlende Mutter-Kind-Bindungen erregt, muss sich an ganz anderen Diskussionen beteiligen, vor allem an der Krippen-Diskussion. Der Zustand unserer Krippen ist katastrophal. Wir haben in unserer Gesellschaft isolierte Kleinfamilien. Wenn ein Kind geboren wird, stehen junge Familien und vor allem die Mütter vor der Wahl, ihr berufliches Umfeld zu verlassen, das heutzutage oft das einzige Umfeld ist. Mindestens 18 Monate lang müsste eine Mama in der Nähe ihres Kindes sein, erst dann entsteht beim Kind ein Ich-Gefühl - und das auch nur auf der Basis von Bindungssicherheit.

Diese Bindungsforschungserkenntnisse haben wir seit einem guten halben Jahrhundert. Und dann lese ich in der Presse, die Babys in Kinderkrippen würden sich nachhaltig positiv entwickeln - auf ein paar Kindertränen käme es nicht an. Diese Doppelbödigkeit empört mich.

Die Mütter haben also das Problem: Entweder anderthalb Jahre Isolation - oder ihr Kind ist fort unter schlechtem Gewissen. Wir haben das jeden Morgen in den Krippen beim Abschied: Kinder schreien, Mütter haben Tränen in den Augen, da spielen sich dramatische Szenen ab. Fachlich ist unstrittig: Wir brauchen auf maximal drei Kinder eine Betreuerin - darauf müsste man sich konzentrieren, und nicht auf so eine alberne TV-Geschichte.

Hier wird eine gefühlige Bindungs-Diskussion geführt, anstatt politische Entscheidungen zu fällen. Und das ausgerechnet von der Familienministerin. Wenn sie über die Abschaffung einer solchen Sendung redet, kann sie gleich über ihre eigene Abschaffung reden. Ich halte das für heuchlerisch. Mir geht die wachsende moralinsaure Allianz zwischen Bürokratie, Politik und Institutionen ganz mächtig auf den Keks. Auch die ewige Counterstrike-Debatte nach jedem Amoklauf, das hat die Funktion der Ablenkung. Um die Kinder kümmert sich bis auf wenige Ausnahmen kein Schwein. Das macht mich zornig, wie Sie merken.

sueddeutsche.de: Sie können die Kritik an RTL also gar nicht nachvollziehen?

Bergmann: RTL selber hat wieder mal eine Chance vertan, dieses elende Image abzulegen. Teile der Sendung habe ich schon gesehen, ich weiß aber nicht, wie sie geschnitten wurden. Da gab es auch sehr schöne Bilder, wo sich 17-jährige Mädchen ganz behutsam um die Kinder kümmern. Man hätte endlich mal etwas Positives zeigen können: Schaut mal her, die Kleinen, wie lebendig die sind und wie viel das mit Glück zu tun hat, dass wir Kinder haben. Durch gescheites Schneiden und gute Kommentare, die nicht auf Krawall gebürstet sind, hätte man aus dem eigentlich guten Konzept viel rausholen können. Ich habe aber keine Hoffnung, dass das Potential, das in dem Thema liegt, ausgeschöpft würde. Das hat RTL verbockt.

sueddeutsche.de: Könnten die Sendung und der Krawall drumherum nicht eine beabsichtigte Grenzverletzung und Provokation sein?

Bergmann: Unter Marketing-Gesichtspunkten wäre das blödsinnig, so wenig helle sind die nun auch wieder nicht. Das kocht jetzt hoch, das Image ist schon wieder beschädigt - das wäre eine zutiefst verfehlte PR-Strategie.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wer bei RTL vorgeführt wird.

Auf Krawall gebürstet

sueddeutsche.de: Kritiker sprechen von einem "Alibi-Psychologen", der nur dazu da sei, der Sendung einen seriösen Anstrich zu geben.

Kinderpsychologe über RTL-Sendung: Wolfgang Bergmann, Jahrgang 1948.

Wolfgang Bergmann, Jahrgang 1948.

(Foto: Foto: dpa)

Bergmann: Das ist in der Tat lächerlich. Wenn da ein ausgebildeter Psychologe neben der Kamera steht, bringt das dem Kind gar nichts. Ist schnurzpiepegal.

sueddeutsche.de: Werden Ihrer Meinung nach die Teenager in der Sendung vorgeführt?

Bergmann: Nein, die Mädchen geben teilweise ein sehr schönes Bild ab: Da sieht man, wie diese 17-Jährige mit hohem Feingefühl auf die Kinder eingeht - und die Kinder reagieren darauf, solange Mama in Sichtweite ist. Solange Mama da ist, ist alles in Ordnung. Man gibt seine Kinder ja auch mal der Nachbarin zum Halten. Das ist auch alles notwendig für die Entwicklung. Die Teenager werden nicht vorgeführt, ein bisschen höchstens die tollpatschigen jungen Männer. Aber dass die tollpatschig sind, kann ich nachvollziehen, das war ich in dem Alter auch. Das ganze ist ein sehr produktiver Ansatz. Man hätte ihn nur nicht auf diese angeblich vorbildhafte BBC-Sendung biegen dürfen, wo man noch viel kälter mit den Kindern umgeht, das war blöde und unvorbereitet von RTL. Vorgeführt werden bei RTL ganz andere.

sueddeutsche.de: Und zwar?

Bergmann: Jeden Tag bei "Deutschland sucht den Superstar" werden diese armen jungen Menschen, die ganz offensichtlich über ihre Fähigkeiten im Irrtum sind, immer wieder vorgeführt. So etwas darf man nicht, das ist menschenunwürdig. DSDS ist ein einziger Skandal. Wenn unsere Gesellschaft feinfühliger wäre, würde sie so etwas verurteilen und nicht mitlachen.

Oder auch die "Super-Nanny", die erste Staffel war schlimm: Da wird ein weinender dreijähriger Junge für eine Dreiviertelstunde auf die stille Treppe gezerrt. Was da an Traumatisierung passiert, ist unverantwortlich. Das wurde von sechs Millionen Menschen gesehen, und keiner hat eingegriffen. Kein Wort des Deutschen Kinderschutzbundes. Inzwischen hat die Super-Nanny aber dazugelernt, die weiteren Staffeln waren einfühlsamer. Jetzt aber scheint das Format, wie ich gehört habe, wieder auf Krawall gebürstet zu werden - ich hoffe sehr, dass das nicht stimmt.

Verglichen mit DSDS könnte "Erwachsen auf Probe" eigentlich nützlich sein. Ich habe momentan auch zwei 16-jährige Teenager in meiner Praxis, die Kinder bekommen haben. Ein Kind ist ein ungeheurer Eingriff in das Leben eines so jungen Menschen. Die jungen Mütter befinden sich in einer emotional hochgeladenen Situation. Dass man das popularisiert, dagegen kann man gar nichts haben.

sueddeutsche.de: Welchen Schaden haben die Eltern, die ihr Kind dafür hergeben?

Bergmann: Die Mütter treten ja gar nicht in Erscheinung. Ich kenne keine junge Familie in Hannover, die nicht bis auf die Knochen erschöpft ist durch Broterwerb und Erziehung, da ist vieles schon so schwierig. Ich nehme an, dass es bei den Mitwirkenden um das Honorar geht und das kann ich niemandem verübeln, denn viele haben ein bisschen Geld wirklich nötig.

Ich kann es nur noch einmal betonen: Was mich an der Diskussion ärgert, ist die Doppelmoral. Hier wird fachlich ungenau argumentiert von Politikern und Institutionen, die es eigentlich sehr viel besser wissen müssten. Die Bindungs-Disskussion muss auf die Krippen-Diskussion verlagert werden. Aber da macht man sich politisch und institutionell nicht mal ansatzweise Gedanken, die über eine Finanzierung hinausgehen.

Ich habe selbst als Chefredakteur ein Kind zur Arbeit mitgenommen. Da war Redaktionsstimmung gleich viel besser. Ich habe Unternehmen beraten, in denen mir sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer gesagt haben, sie hätten gerne eine kinderfreundlichere Athmosphäre im Arbeitsleben. Wer RTL aus der Feinfühligkeit gegenüber Kindern kritisiert, den kann ich verstehen, dem Familien-Netzwerk traue ich das auch zu. Vom Deutschen Kinderschutzbund aber habe ich noch kein Wort gehört zum Thema Krippenbetreuung. Das ärgert mich. Ich bin einer der ganz wenigen, der öffentlich sagt: Nach allem, was wir über die Bindungs-Forschung wissen, müssen wir offen zugeben: Die Kinder sind uns gleichgültig. Sonst hätten wir bessere Krippen.

sueddeutsche.de: Das ist aber nicht nur mit den Kindern so. Vor dem Problem, dass Familien mit ihren akuten Versorgungsproblemen alleingelassen werden, stehen auch Kinder, die ihre alten Eltern versorgen müssen.

Bergmann: Das ist das Grundproblem unserer Gesellschaft. Die Schwachen werden nicht gehört, das sind vor allem die Kinder und die Alten. Bei den Kindern sind wir uns wenigstens einig: Wenn es um sie geht, engagieren wir uns. Jetzt an dieser Stelle aber gegen RTL zu schießen, ist billig. Das ist ein Gegner, bei dem sich jeder als der Stärkere fühlen kann.

sueddeutsche.de: Was würden Sie sich für die Sendung wünschen?

Bergmann: Der Deutsche Kinderschutzbund hat keine ohnmächtige Stellung. Man sollte ein intensives Gespräch mit dem Sender führen, vielleicht kann man aus der Sendung noch etwas Gutes machen. Die Konzepte liegen ja auf der Hand. Es gibt einen ungeheuren Bedarf an Erziehungsberatung. Der Intim-Raum gehört eigentlich nicht ins Fernsehen, aber wir leben nun mal in einer Welt, in der das Intimleben ausgeschlachtet wird. Ich bin auch dagegen. Es wäre aber weltfremd, das rückgängig machen zu wollen. Also muss man schauen, was man daraus machen kann. Diese Sendung hätte eine enorme Chance sein können, zu zeigen, dass ein Baby kein Kuscheltier ist. Dieselben Kampagnen laufen auch an Schulen, aber da sind sie Teil des Unterrichts. Die Chance wäre groß gewesen, an diesem Beispiel zu zeigen, wie bindungs- und pflegeintensiv ein Kind ist. Die Mütter hätte man nicht hinter der Kamera lassen sollen. Der Blick zwischen Teenager und Mutter, die Bindung, die zwei Menschen aufnehmen, weil sie ein Baby anschauen, das wäre zeigenswert gewesen. Aber vermutlich weniger quotenintensiv.

Wolfgang Bergmann war unter anderem Chefredakteur und Medienmanager, bevor er eine Praxis für Kinder- und Jugendtherapie eröffnete. Im Umgang mit den "neuen Kindern" setzt der Autor zahlreicher Bücher auf Gelassenheit, Ordnung und das, was er "gute Autorität" nennt. In der öffentlichen Debatte nimmt er eine Gegenposition zu den Publizisten Michael Winterhoff und Bernhard Bueb ein, die mit ihren Büchern mehr Disziplin in der Kindererziehung fordern. Er ist Vater von drei Kindern.

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