Kinderbuch:Liberty in Arizona

Zwei Mädchen auf dramatischer Flucht, nachdem sie von ihrem Vater an einer Tankstelle zurückgelassen wurden.

Von Hilde Elisabeth Menzel

"Tu so, als ob", mit dieser "Überlebens-strategie # 1" beginnt Liberty ihre Auf-zeichnungen. Fünfzig Überlebensstrategien später notiert sie in ihr Notizbuch:

"Ich war fertig damit, immer so zu tun, als ob." Dazwischen liegen drei Tage, in denen sie verzweifelt versucht, eine für sie völlig überraschende und schier unlösbare Aufgabe zu meistern. Wie das ungewöhnlich berührende Cover andeutet, übernimmt die Zwölfjährige die Verantwortung für ihre kleine Schwester, versucht sie zu beschützen, immer die richtigen Entscheidungen zu treffen und dabei den Mut nicht zu verlieren. Zum Glück hat sie ihr Notizbuch, in das sie alles schreibt oder einklebt, was ihr wichtig erscheint, und das sich für sie als Rettung erweist.

Was war passiert? Mitten in der Gluthitze Arizonas lässt der Vater Liberty und die neunjährige Billie an einer heruntergekommenen Tankstelle zurück und fährt mit dem gemieteten Wohnmobil davon. Vorangegangen war ein Streit, der hässliche Spuren auf Billies Wange hinterlassen hatte. Den gruseligen Tankwart wagen die Kinder nicht um Hilfe zu bitten, sie fürchten sich vor ihm. Während die Mädchen auf ihren Vater warten, erzählt Liberty von ihrem Leben vor dieser Reise. Vor drei Monaten war ihre Mutter tödlich verunglückt, und eine Freundin und Nachbarin der Mutter, eine Krankenschwester namens Julie, hatte die Kinder bei sich aufgenommen. In den Hinterlassenschaften ihrer Freundin fand sie die Adresse des Vaters der Kinder, der die Familie verlassen hatte, als Billie drei und Liberty sechs Jahre alt waren. Sie wussten nur, dass er ein bekannter Fotograf und überall in der Welt unterwegs war.

Einige Wochen nach dem Tod der Mutter taucht er bei Julie auf. Er hat einen Camper dabei und will die Mädchen für die Zeit der Ferien mit auf eine Reise nehmen, die nun an dieser Tankstelle ein Ende findet. Als der Tankwart den Sheriff ruft, geraten die Kinder in Panik und verstecken sich unter der Rückbank eines Autos, dessen Besitzerin zum Bezahlen in die Tankstelle gegangen ist. Und nun beginnt eine dramatische Flucht voller Gefahren, bei der sie schließlich von unerwarteter Seite Hilfe bekommen und am Ende von Julie geholt werden. Auch den Vater hat man gefunden und festgenommen. Als Liberty sich stark genug für ein Gespräch mit ihm fühlt, versucht er ihr zu erklären, dass er krank sei und die Verantwortung für die Kinder nicht ertragen hätte. Es bleibt offen, wie das Vormundschaftsgericht entscheidet, doch das ist nicht mehr wichtig für Liberty, denn sie weiß, dass sie stark genug ist, ihre kleine Schwester zu beschützen.

Kinderliteratur aus den USA ist geprägt von sozialem Elend, Krankheit und Tod, aber auch von einer optimistischen Weltsicht, vom Glauben an die Kraft der Kinder, die in Notsituationen über sich selbst hinauswachsen und Überlebensstrategien entwickeln. Psychologisch genau beobachtet und sehr authentisch aus der Sicht der Heldin erzählt, gelingt der amerikanischen Autorin mit diesem Debüt das Porträt einer ungewöhnlichen Jugendlichen, die man so schnell nicht vergisst. (ab 12 Jahre)

Jen White: Als wir fast mutig waren. Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister. Carlsen Verlag, Hamburg 2017. 320 Seiten, 14,99 Euro.

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