Katalonien und Europa:Selbstbestimmung lädt zur Diktatur ein

Catalonians Face An Uncertain Future After Independence Vote

Am Wochenende skandierten Bürger, wie hier in Barcelona, den Appell "Lasst uns reden", der sich sowohl an die Zentralregierung in Madrid als auch an die Katalanen richtet.

(Foto: Chris McGrath/Getty Images)
  • Hinter den aktuellen separatistischen Strömungen stecken nicht nur ökonomische Motive, sondern auch eine neue Sehnsucht nach Homogenität.
  • Soziologen warnen jedoch vor einem "Europa der Regionen".
  • Je kleiner und homogener eine Einheit ist, desto geringer wird ihre Verschiedenheitstoleranz.

Von Gustav Seibt

Nach dem katalanischen Referendum soll es in zwei Wochen ein lombardo-venezianisches geben, bei dem der Norden Italiens über seine Selbständigkeit abstimmt. Wie in Spanien sind die Gründe vorwiegend ökonomisch. Wirtschaftlich starke Regionen wollen nicht weiter für ärmere Teile des Landes zahlen, mit denen sie in Nationalstaaten zusammenleben.

In Italien ist das eine Dauerklage seit der Vereinigung des Landes im 19. Jahrhundert: Der prosperierende, fortschrittliche Norden schleppt einen zurückgebliebenen, korrupten Süden mit. Katalonien zahlt Milliarden an die spanische Zentrale, so wie Bayern im Bundesfinanzausgleich an die anderen Bundesländer. So weit, so nüchtern, so wenig schön. Über Geld könnte man ja verhandeln.

Aber das ist noch nicht alles, vielleicht nicht einmal das Hauptmotiv, und das macht diese immer wieder aufflammenden Konflikte so unerfreulich. Die Regionen, die sich abspalten, wollen nicht nur Finanzhoheit, sie wollen auch unter sich bleiben. Wie die Schotten oder die Iren blicken sie auf eine lange, oft leidvolle Geschichte zurück, sie sprechen eigene Sprachen, es handelt sich zweifellos um historische Regionen.

Eine sezessionistische, auf Abspaltung und Neugründung zielende Welle durchlief Europa in den frühen Neunzigerjahren, nach dem Ende der Großraumordnung des Kalten Kriegs. Das sowjetische Imperium wurde mit guten Gründen als Völkerkerker empfunden, schlimmer als einst Österreich-Ungarn, das vor 1914 mit diesem Schimpfwort belegt wurde. Nicht einmal der russische Kern dieses ganz Osteuropa beherrschenden Imperiums war homogen.

Die "Selbstbestimmung" wird gefährlich, wenn sie ethnische Gleichförmigkeit erzwingen will

So befreiten sich seit 1990 nicht nur hegemonial beherrschte, aber noch fortbestehende Staaten wie Polen und Ungarn, es kam darüber hinaus zu den Abspaltungen der baltischen Länder, Weißrusslands und der Ukraine. Auch im asiatischen Teil der ehemaligen UdSSR entstand ein Gürtel neuer Staaten. Kurz danach begannen der jugoslawische Zerfallsprozess mit Krieg und ethnischen Säuberungen, die erst eine Nato-Intervention stoppte. Da konnte man froh sein, dass wenigstens die Trennung von Tschechien und der Slowakei lautlos über die Bühne ging.

Schon 1991, am Beginn der jugoslawischen Krise, warnte der liberale Denker Ralf Dahrendorf in visionären Aufsätzen vor dieser Tendenz zur Rückkehr in kleine historische Einheiten, vor der neuen Sehnsucht nach Homogenität in einer "Stammesexistenz": "Menschen können oder wollen das Leben in heterogenen Gemeinschaften nicht ertragen; sie suchen ihresgleichen und möglichst nur ihresgleichen", schrieb Dahrendorf 1991 in der Zeitschrift Merkur unter dem Titel "Europa der Regionen?". In einer kurz zuvor gehaltenen Rede entwickelte Dahrendorf die inneren Widersprüche des völkerrechtlichen Konzepts der "Selbstbestimmung": Es würde immer im Namen von anderen in Anspruch genommen, die im Zweifelsfall gar nicht gefragt würden. "Selbstbestimmung lädt zur Diktatur ein", so Dahrendorf.

Die Begriffe "Stammesgesellschaft", "Stammesexistenz" wählte er dabei mit Bedacht. Sie sind im politischen Denken Karl Poppers, eines der liberalen Lehrer Dahrendorfs, das Gegenüber von "offenen Gesellschaften", in denen Verschiedene mit gleichen Rechten zusammenleben. Den heterogenen Nationalstaat nannte Ralf Dahrendorf in seinem Merkur-Beitrag "größte Errungenschaft der politischen Zivilisation". Denn das sind die europäischen Nationalstaaten: heterogen, innerlich voller Verschiedenheiten, historische Regionen, unterschiedliche Konfessionen und Dialekte überwölbend, mit Mehr- und Minderheiten.

Den homogenen Nationalstaat, das Phantasma vieler Nationalisten, kann es nur auf kleinstem Raum geben, wo das Volk als Großfamilie, als Clan-Verband, eben als "Stamm" begriffen wird, nicht als historisch gewachsene Rechtsgemeinschaft von Bürgern, die sich als Gleiche anerkennen. Alle Versuche, in großen Nationen Homogenität, Einförmigkeit von Volk oder Kultur herzustellen, endeten in brutaler Unterdrückung, oft mit ethnischen Säuberungen, gar Massenmorden.

Ein "Europa der Regionen" unterläuft die Idee der Bürgerschaft

Doch die Lösung, die Einheiten so zu stückeln, dass nur noch homogene Kleinststaaten zurückbleiben - also ein "Europa der Regionen" - erschien dem Liberalen Dahrendorf keineswegs wünschenswert. Denn die Homogenität unterlaufe die "Idee von Bürgerschaft". Diese besteht darin, dass sie ein Leben mit Unterschieden erlaubt. Und diese Unterschiede betreffen eben nicht nur Sprache oder Herkunft, sondern auch alle anderen Aspekte, in denen Bürgerindividuen sich unterscheiden können, Religion, weltanschauliche und politische Überzeugung, sexuelle Orientierung. Je kleiner und homogener ein Ländchen ist, umso geringer wird ganz allgemein seine Verschiedenheitstoleranz, und die demokratische Idee der Gleichheit droht sich auf ethnische Gleichförmigkeit zu verengen. Aus dem politischen Demos, dem Souverän der Demokratie, wird das völkische Ethnos, der Stamm, die Gemeinschaft.

Das ist idealtypisch gesprochen, aber es erklärt, warum aus liberaler Sicht ein Übermaß von Homogenität prinzipiell nicht wünschenswert ist. Die Befreiung aus den "Völkerkerkern" könnte die Völker in Einzelhaft bringen, um ein Bonmot Martin Mosebachs aufzugreifen. Die innere Freiheit leidet, wenn Freiheit vorwiegend als äußere, nationale Freiheit begriffen wird. So war es lange Zeit im nationalen Denken Deutschlands, das sich seit den "Befreiungskriegen" gegen Napoleon einseitig auf die Freiheit von ausländischer Hegemonie, auf nationale Selbständigkeit konzentrierte. In allen nationalen Unabhängigkeitskämpfen pflegen die Reihen sich zu schließen. "Stämme mögen Minderheiten nicht", fasste Dahrendorf zusammen.

Schon 1991 wies dieser auch auf eine fatale Wechselwirkung mit der Europäischen Union (damals noch EG) hin: Die Regionen verließen sich bei ihrem Kampf gegen die Nationalstaaten darauf, im großen Ganzen Europas aufgehoben zu bleiben, sie wollten also die materiellen Folgen ihrer Vereinzelung doch lieber nicht tragen. Man wollte unter sich bleiben und gleichzeitig die Vorzüge einer großräumigen Wirtschaftsordnung behalten.

Zentralregierungen sind gut beraten, sich nicht auf Polizeigewalt zu verlassen

Das erinnert an die wenig erfolgreichen Versuche der Zwischenkriegszeit, nach dem Ende der beiden osteuropäischen Vielvölkerreiche Russland und Österreich-Ungarn mit Hilfe von Handelsverträgen die alten Verkehrswege und Verbindungen wieder aufleben zu lassen. Auch mussten komplexe Minderheitenrechte, vor allem für die Ungarn, deren Staat 1919 radikal verkleinert worden war, die alten imperialen Formen des Zusammenlebens mühsam ersetzen. Ähnliche Probleme entstanden nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches, aus der sich alle bis heute fortbestehenden Konflikte des Nahen Ostens entwickelten. Die Zerstörung der Großreiche zwischen Ostsee und Mittelmeer seit 1918 sind ein Menetekel für alle Sezessionen seither.

Dabei plädierte Dahrendorf am Vorabend des Jugoslawien-Kriegs keineswegs für Zentralismus oder für einen forcierten Multikulturalismus. Das Leben in Gemeinden und Regionen solle durchaus blühen, sei es in heterogenen Nationalstaaten, sei es in einem künftigen europäischen Staat. Auch lehnte er die militärischen Maßnahmen der damaligen jugoslawischen Führung strikt ab. Vor dem Hintergrund dieses Beispiels müssen die Polizeimaßnahmen der heutigen spanischen Regierung aufs Äußerste beunruhigen.

Was folgt aus alldem? Dahrendorf verlangte 1991, die Schwellen für Abspaltungen zu erhöhen und formulierte einen Kodex für Sezessionen. Man müsse zuvor alle Möglichkeiten der Einheit in Frieden ausschöpfen. Nötig seien auch qualifizierte Mehrheiten; hauchdünne Abstimmungsergebnisse - wie zuletzt auch beim Brexit - hielt Dahrendorf für unzureichend. Er erinnerte daran, dass die Schweiz nach dem Ersten Weltkrieg die Region Vorarlberg nicht aufnehmen wollte, weil ihr 20 Prozent Nein-Stimmen bei der Volksabstimmung davor zu viel erschienen.

Eine Mehrheit von drei Viertel der Stimmen verlangte Dahrendorf bei Unabhängigkeitsreferenden. Und danach sollte internationale Anerkennung und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem neuen Staatsgebilde an scharfe Auflagen zu Freiheitsgarantien und Minderheitenrechten geknüpft werden. Schon die Einführung einer diskriminierenden Einheitssprache sei nicht akzeptabel.

Das sind Warnungen für die Gegenwart. Die Europäische Union muss ihre Rolle als Hüterin der liberalen Ordnung wahrnehmen, und Zentralregierungen sind gut beraten, sich nicht allein auf Polizeigewalt zu verlassen. Die liberalen Öffentlichkeiten aber sollten den Unfug des Stammesdenkens mit Gründen bestreiten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: