Karl Philipp Moritz (XXXV):Fakten, kein moralisches Geschwätz

SZ-Serie (XXXV): Karl Philipp Moritz - Idealist einer vollkommenen Zeitung

WILLI WINKLER

(SZ v. 04.08.2003) Darf's ein bisschen mehr sein, noch mehr Halbeinkünfteregelungen, Dosenpfänderspiele, Entfernungspauschalenkappungsgrenzen? Nur das Ewiggleiche steht doch in der Zeitung. Und Schuld ist: der Journalist. Er muss die Welt verbessern oder wenigstens retten. Der Journalist wäre wohl am liebsten doch Politiker geworden.

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Moritz nicht. 1783 formuliert Karl Philipp Moritz in der Einleitung zu seiner Zeitschrift Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, was er bringen will: "Facta, kein moralisches Geschwätz!" Dieses Kontrastprogramm ist auf keinen Fall zu verwechseln mit geröllheimernden Kolumnen - oder hätte sich mancher Erster Journalist je dazu verstanden, was dem bitterarm aufgewachsenen Moritz so wichtig war: "Das Elend, wenn's einmal da ist, muss unter uns zur Sprache kommen, und auf Mittel gedacht werden, wie man demselben abhelfen kann!"

Den Zuständen abzuhelfen, das war ein Gedanke, der in dieser vorrevolutionären Zeit nicht nur in der Berliner Luft lag. Das ancien régime dehnte sich überreif, die Aufklärer schrieben die Revolution herbei, doch der revolutionäre Moritz ahnte davon lange nichts.

1756 kam er in Hameln zur Welt und sauste, einmal seiner beständig nieder-gedrückten Kindheit entronnen, wie ein Wirbelwind durchs spätere 18. Jahrhundert. Ein unermüdlicher Projektemacher war er, gründete Zeitschriften, gab sie wieder auf, schrieb an vier Manuskripten gleichzeitig und förderte jeden, der seine Geschichte zu erzählen hatte. "Und was ist dem Menschen wichtiger, als der Mensch?"Ja, was? Jeder soll im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde auftreten können, jeder soll seine Geschichte erzählen dürfen, es gibt kein System, keine Philosophie, keine Lehre, es gibt nur den einzelnen, demokratischen Fall.

Schauspieler wollt' er zuerst werden, der an Freitischen herumessende Schüler Moritz, wollte etwas darstellen in der Welt, deklamieren, dann, wie natürlich, Prediger werden. Er dichtete wohl auch. Strebte ins Lehrfach und gleich wieder heraus, litt, unterrichtete dann in einem Waisenhaus, erzog Taubstumme, litt, reiste, schwärmte, hypochonderte, schrieb dazu noch Stücker zwanzig Bücher und war schon mit 36 tot. Moritz schrieb sich aus seinem Elend heraus, schrieb sich nach oben. In Rom war er mit Goethe befreundet, in Weimar gab er dem Herzog Englischstunden, in Berlin wirkte er zuletzt als Professor für Ästhetik für Tieck, Wackenroder, die Humboldt-Brüder. Über seine pietistisch-verfrömmelte Kindheit hat er den Anton Reiser geschrieben, "ein Buch", befand der verwandte Arno Schmidt, "wie es kein anderes Volk der Erde besitzt". Goethe erkannte in Moritz den "jüngeren Bruder, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin". Aber hier geht es um den Zeitungsschreiber Moritz. Der war einer der raren Schriftsteller, die sich fürs Kleingeld des Zeitungsmachens interessierten und etwas davon verstanden.

Im Sommer 1784 kam ihn der Gedanke an, "Mit Herrn Voß und Sohn in Verbindung zu treten, um die hiesige Zeitung, welche in derem Verlage heraus-kömmt, zu schreiben". Die Zeitung will er schreiben, am besten gleich die ganze! Der Phantast hatte sich durch eine Theaterkritik empfohlen, die nichts zu wünschen übrig ließ: "Mit welcher Stirn kann ein Mensch doch solchen Unsinn schreiben und drucken lassen! (...) So schreiben heißt Geschmack und gesunde Kritik mit Füßen treten; und darin hat denn der Verfasser diesmal sich selbst übertroffen." Der Verfasser hieß Friedrich Schiller, das Stück war das damals sehr geschätzte Kabale und Liebe, und der Kritiker Moritz ein Niemand. Aber ehrgeizig, vorlaut, selbstbewusst. (Schiller gab dem Kritiker bei einer Begegnung später generös zu, dass sein Stück doch arg misslungen sei.)

Moritz wollte noch mehr als Kunst, wollte wie jeder anständige Journalist die ganze Zeitung für sich. Selbstbewusst war sein Plan, großzügig, und auf einen Verleger hoffend, der seinem "Ideal einer vollkommnen Zeitung" Kredit gebe. "Schon lange", so hebt sein Programm an, "habe ich die Idee mit mir herum getragen, ein Blatt für das Volk zu schreiben, das wirklich von dem Volke gelesen würde, und eben dadurch den ausgebreitetsten Nutzen stiftete."

Moritz nimmt einen Relaunch vor, frischt das Layout auf, bringt Bilder und vor allem allerunterthänigste Skepsis. Das Volk soll was zu lesen bekommen. Wissenschaft will Moritz unters Volk streuen, damit es in "wohlthätigen Umlauf" komme, Erfindungen sollten vorgestellt, Bildungseinrichtungen kritisiert, die Kirche, die verschiedenen Leistungen der Künste, die Justizpraxis scharf beobachtet werden. Die Zeitung "müsste die Mängel derselben rügen, wo sie nur irgend dürfte und könnte" und natürlich nicht versäumen, "jede Nachricht auch von der kleinsten Verbesserung" sofort weiterzugeben. Auch für das Positive würde in dieser hochmodernen Zeitung gesorgt: Durch "edle Beispiele" soll das Volk der Leser gebildet werden. "Wahrlich es ist zu verwundern, da man bisher so viel von Aufklärung geredet und geschrieben hat, dass man noch nicht auf ein so simples Mittel, als eine Zeitung, gefallen ist, um sie in der That zu verbreiten." In der Tat.

Moritz wollte den Großen ihre Spiele nicht missgönnen, plädierte aber hef-tigst gegen die bekannten&beliebten geostrategischen, weltenlenkerischen Global- und Total-Analysen, "wo man die geheimen Triebfedern ebenso wenig erfährt, als die erste Ursach von dem Ungewitter, welches gerade heute, und nicht eher, über unsern Horizont herauf-gezogen ist", und verwendet sich gut lutherisch für einen New Journalism, also zum Beispiel für die Beobachtung zweier "Sackträger, die sich auf der Straße ge-zankt haben", plädiert für die Fakten und gegen das moralische Geschwätz.

Moritz, müssen wir uns vorstellen, hätte den Leitartikelismus, wonach ein Kerl gefälligst eine Meinung und am besten täglich gleich fünf davon haben müsse, in Grund und Boden verabscheut.

Weit kam er damit nicht.

"Mag ich dann dieses Ideal auch nie erreichen, so wird es doch immer das höchste Ziel bleiben, wonach ich strebe, und komme ich ihm jemals nahe, so glaube ich schon dadurch einen der edelsten Zwecke des Schriftstellers erreicht zu haben."

Tapfer gesprochen.

Moritz' Zeitungsarbeit - muss man's sagen? - währte nicht lange. Die Theater schimpften, die Behörden maulten, die Leser waren überfordert, die Auflage sank. Nach nur zehn Monaten ging Moritz auf und davon, überlegte, ob er viel-leicht nach Amerika auswandern solle und reiste dann doch lieber nach Italien. Die Vossische Zeitung machte die Moritzschen Änderungen rückgängig, kehrte vom Ideal einer vollkommenen Zeitung brav zum politischen Tagesgeschäft zurück.

Der Zeitung, jeder, fehlt Moritz noch heute.

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