Kapitalismuskritik:Authentisch und einstudiert

Gefühle als Waren: Die Soziologin Eva Illouz und ihre Mitarbeiter untersuchen in einem Sammelband die Rolle der Emotionen für die Entwicklung des Kapitalismus vom 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Von Fritz Göttler

Es ist ein Ereignis, sagt Sue, sie meint kommerzielle Grußkarten, die sie gern verschickt, die Wertigkeit, die diese beim Empfänger haben soll, die Sorgfalt beim Aussuchen, die sie entwickelt. Sue ist eine der Gesprächspartnerinnen, die zu Wort kommen in dem Aufsatz "Authentizität in kommerziellen Glückwünschen" von Emily West in diesem Band. Jeder hat sich wohl mehrfach dieser Karten bedient, zum Geburtstag, fürs Mitgefühl im Trauerfall, zur Hochzeit. Die Karten werden oft als rascher, entsubjektierter Ersatz für das ausgiebige persönliche Briefeschreiben in vergangenen Jahrhunderten gewertet, Emily West aber demonstriert, wie das Zusammenspiel von Individuellem und Mechanischem in ihnen auf komplexe Weise weiterleben kann, es wird viel Zeit und Überlegung in die Auswahl gesteckt und eine Art persönlicher Beziehung mit dem Empfänger aufgebaut. "Und es ist anders als aus dem Handgelenk", erklärt Sue. "Aus dem Handgelenk kann gut sein, aber, wissen Sie, einstudiert ist manchmal ein bisschen besser." Manche kaufen die Karte deshalb nicht im Drugstore (oder hierzulande im Kaufhof), gewissermaßen en passant, sondern gehen in ein Geschenkartikelgeschäft. Nachdem eine Frau eine Karte erhalten hat, die die Firma Hallmark eigens für den Fall einer Fehlgeburt konzipiert hatte, fühlte sie sich nicht mehr allein in ihrer Trauer, sondern geborgen in der Gemeinschaft der Frauen mit gleichem Schicksal. Seit 2008 stellt Hallmark endlich auch Karten zur Verfügung, die eine gleichgeschlechtliche Ehe feiern.

Kapitalismuskritik: Eva Illouz (Hrsg.): Wa(h)re Gefühle. Authentizität im Konsumkapitalismus. Mit einem Vorwort von Axel Honneth. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 332 Seiten, 22 Euro.

Eva Illouz (Hrsg.): Wa(h)re Gefühle. Authentizität im Konsumkapitalismus. Mit einem Vorwort von Axel Honneth. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 332 Seiten, 22 Euro.

Die kleine Grußkarten-Studie von Emily West ist einer der ungewöhnlichsten Beiträge dieses Sammelbands. Der Band bietet Ergebnisse eines mehrjährigen Forschungsprojekts zum neuen Konsumkapitalismus, das die Soziologin Eva Illouz an der Hebrew University in Jerusalem durchzog. Ein Projekt, das in der Tradition und in Auseinandersetzung mit der klassischen "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer/Adorno stand.

Seit den Siebzigern wird der Kapitalismus immer weniger in materialistischen Kategorien definiert, der Begriff der Arbeit und Produktion hat sich stark erweitert, die Dialektik von Waren- und Tauschwert, die so eindeutig war in der marxistischen Vorstellung. "Gefühle in Warenform sind der Aufmerksamkeit der Konsumtheorien bisher entgangen. Sie stellen jedoch einen der stärksten roten Fäden dar, um die Entwicklung des Kapitalismus seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu erklären." Der Band bringt Studien und Erkenntnisse zu den Mechanismen von Markenbildung und Marketing zusammen mit dem Prozess der Entmaterialisierung der Produktion, der Umstellung von einer reinen Güter- auf eine Dienstleistungsindustrie. Auch die semiotischen Praktiken und Manipulationen der Werbung haben sich verändert, und mit ihnen die Rolle des Irrationalen und der Emotionen. Was es nun beim modernen Kapitalismus zu studieren gilt, ist "seine Fähigkeit, Gefühle als Waren zu erzeugen".

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag auf seiner Homepage zur Verfügung.

Für die Elemente dieses Prozesses kreiert Eva Illouz den Begriff emodities (nach dem englischen Wort commodity = Ware, in der deutschen Übersetzung wird immer der Begriff Gefühlswaren verwendet). In diesem affektiven Kapitalismus ist emotionale "Authentizität" entscheidend, ein Gefühl des Ursprünglichen, des Individuellen, als Motivation des Konsumverhaltens. und die Beiträge des Bandes gehen davon aus, im Gegensatz zur weitverbreiteten, oberflächlichen Kritik, "dass die emotionalen Versprechen von Konsumgütern nicht immer trügen: Statt lediglich Teil eines strukturellen Kreislaufs und Teufelskreises der Enttäuschung zu sein, bieten manche Gebrauchsgegenstände tatsächlich die emotionalen Effekte, die sie verheißen ... Das ist auch der Grund, warum sich ein solcher Konsum natürlich anfühlt ..."

Weg mit der Unterscheidung Subjekt und Objekt

Der implizite Vorbehalt im Blick auf die Kulturindustrie, ein starker normativer Impuls hat lange eine wirklich objektive Erforschung ihres Funktionierens behindert. Illouz und ihre Mitarbeiter versuchen eine postnormative Kritik des Kapitalismus, Horkheimer/Adorno, modifiziert durch Michel Foucault oder Bruno Latour. "Gegen die Grundsätze der Kritischen Theorie müssen wir die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt abschaffen." Die Gefühle verlieren dann ihre Aura des Ursprünglichen, des Authentischen, des Natürlichen. Bei Axel Honeth, der das Vorwort zum Band liefert, wird so das unangenehme Gefühl aus, "hier seien nun für die Schreckensbilder eines Michel Houellebecq am Ende doch schon die empirischen Belege aufgespürt worden".

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