Klassik-CD:Elf Sekunden Drama

Klassik-CD: Der 1926 geborene Komponist György Kurtág liebt es, Miniaturen zu schreiben, die er gern zu großen Zyklen anordnet.

Der 1926 geborene Komponist György Kurtág liebt es, Miniaturen zu schreiben, die er gern zu großen Zyklen anordnet.

(Foto: Frank Leonhardt/dpa)

Mit der Sängerin Anna Prohaska und der Geigerin Isabelle Faust hinreißend neu eingespielt: György Kurtágs "Kafka-Fragmente".

Von Wolfgang Schreiber

"Es zupfte mich jemand am Kleid, aber ich schüttelte ihn ab", so knurrt Franz Kafka in einem Tagebuchfragment. So faucht es der Sopran, die Sologeige zerrt den Hörer mit blitzartigen Strichen in die Beklemmung. Das ist garantiert das kürzeste Musikdrama der Welt, elf Sekunden lang, eingebettet in einen Zyklus aus lauter solchen Miniaturen. Der Komponist György Kurtág, Jahrgang 1926, brachte in seinen längst schon legendären "Kafka-Fragmenten" das Kunststück fertig, in der absurd sarkastischen Aneinanderreihung lyrischer Schocks ein Schweben herbeizuzaubern: ein Kaleidoskop verrätselter Gedanken, Gefühle und heimlicher Kampfansagen in Pillenform.

"Kafka-Fragmente" hat Kurtág Mitte der 1980er-Jahre komponiert, es ist die Sammlung vertonter Tagebuchfetzen, Briefzitate und notierter Einfälle, geordnet in einem wie spontan hingeworfenen Zyklus von gut drei Dutzend Miniliedern. Großartig, wie die Sopranistin Anna Prohaska und die Geigerin Isabelle Faust in ihrer Neuaufnahme (harmonia mundi) die harsch emotionalen, intonatorischen und rhythmischen Grenzen der Lieder austesten, mit ihrer Lust an expressivem Witz oder Ingrimm.

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(Foto: harmonia mundi)

Abenteuerlich auch die Vielfalt der Texte, ihre intellektuellen Nuancen, Beteuerungen, Stimmungen. Fragment 19 bietet ein panisches Geschrei der Sängerin, begleitet von der aufgescheuchten Geige, mit dem Ausruf: "Nichts dergleichen, nichts dergleichen". Es folgt, als Botschaft an den Komponistenkollegen Pierre Boulez deklariert, das mit knapp sieben Minuten längste Stück, entlang einer Girlande mikrotonal leiser Doppelgriffe der Geige und des brütenden Sopran-Gestus, der Kafka-Satz: "Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über den Boden . . ." Oder im tief versonnen beunruhigten Tonfall, einminütig: "Meine Gefängniszelle - meine Festung". Und ganz langgezogen: "Der begrenzte Kreis ist rein". Ziemlich wütend: "Es gibt kein Haben, nur ein Sein, nur ein nach letztem Atem, nach Ersticken verlangendes Sein ".

György Kurtágs "Kafka-Fragmente" können den Kürzelkünsten der legendären Bagatellen Anton Weberns Paroli bieten, sie erzählen etwas in äußerster Verdichtung von Form, Ausdruck und Substanz. Kurtágs soghafte Kunst der Lyrikkompression kann einen beim Hören schwindelig machen, obwohl Anna Prohaska und Isabelle Faust immer das emotionale Gleichgewicht garantieren.

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