Juristerei und Netz:Schalt ab!

Die Computerisierung der Gesellschaft schreitet derart rasant voran, dass der Staat kaum noch gegensteuern kann. Er tendiert zudem dazu, sein Gewaltmonopol an private Internetfirmen abzugeben - zum Schaden für die Demokratie.

Von Adrian Lobe

Es gehört zu den verblüffenden Strukturmerkmalen der Digitalisierung, dass die scheinbar unterschiedlichsten Phänomene miteinander vernetzt sind und einer ähnlichen Funktionslogik gehorchen. So lässt sich etwa ein innerer Zusammenhang zwischen Hasskommentaren und der Dieselaffäre identifizieren: Nicht nur, dass Verbalinjurien und Emissionen Externalitäten unter Druck stehender sozialer Systeme sind (Mobilität, Kommunikation). Sondern auch, dass für deren Beseitigung die Emittenten eigene Regeln aufstellen. Die Bundesregierung hat mit dem Netzwerkdurchsuchungsgesetz Facebook die Löschung von Hasskommentaren überantwortet und dem Konzern eine Richterrolle zugewiesen. Facebook legt nach algorithmischer Logik aus, wo die Grenzen der Meinungsfreiheit liegen. Gleichzeitig überspielen Autobauer zurückgerufene Dieselfahrzeuge mit einem "Software-Update" und definieren Standards.

Wie will der Staat sein Gewaltmonopol in Zukunft durchsetzen?

Facebook, Audi und Co. werden so zu Schiedsrichtern in eigener Sache. Das offenbart ein akutes Problem des Rechtsstaats: Die Computerisierung der Gesellschaft schreitet derart schnell voran, dass der Staat mit Regulativen kaum noch gegensteuern kann. In einem modernen Fahrzeug stecken durchschnittlich 100 Millionen Zeilen Programmcode. Wie will die Rechtsaufsicht in Gestalt des TÜV oder Kraftfahrt-Bundesamts prüfen, ob in dem Code eine Schummelsoftware eingeschleust wurde? Abstrakt formuliert: Wie will der Staat sein Gewaltmonopol durchsetzen, wenn das Informationsmonopol bei Privaten liegt?

Die von Verbraucherschützern vorgebrachte Idee eines Algorithmen-TÜVs ist im Grunde ein Etikettenschwindel, weil die Konzerne ihre Produkte selbst zertifizieren. Facebook verleiht seinem Fakten-Check ein Gütesiegel - und schafft damit selbst Fakten. Und das von der Automobilindustrie mit dem Gestus der Generosität offerierte Software-Update suggeriert, es handele sich bei der Betrugssoftware um einen Bug im Betriebssystem, den man kulanterweise mit ein paar Codes beheben könne. Der Betrug erscheint in diesem Licht wie ein bloßer Formfehler, der sich mit der richtigen Formel korrigieren lässt. Der Code ist nicht nur das Gesetz, wie der Harvard-Jurist Lawrence Lessig formulierte, sondern ein Vehikel, das Recht zu derogieren - der Code rangiert in der Normenhierarchie ganz oben. Wo technische Dispositive zu Rechtsregimen und Tech-Konzerne durch formale Übertragung von Kompetenzen zu einer Lizenzierungsagentur werden, scheint etwas im Gefüge des Rechtstaats durcheinander geraten zu sein.

Die belgische Rechtsinformatikerin Mireille Hildebrandt hat die These aufgestellt, dass das Recht im Internet der Dinge zur bloßen Information degeneriert. Für die Programmierer sei das positivierte Recht lediglich ein Quellcode, ein Skript, das man jederzeit überschreiben könne. Rechtstraditionen würden auf das heruntergebrochen, was codiert, umcodiert und in maschinenlesbare Datenpunkte transformiert werden könne.

Die Rechtsdurchsetzung könnte bald schon automatisiert erfolgen

Der britische Jurist und Informatikspezialist Richard Susskind schrieb 2009 in seinem Buch "The End of Lawyers", dass die Bedeutung von Juristen in aller Welt, in der automatisch Verträge generiert und Konventionen ohne Zwischenschaltung intermediärer Akteure geschlossen werden, wenn nicht überflüssig, so doch abnehmen werde. Das Recht könnte sich wie der Zucker in einer Kaffeetasse auflösen und durch globale Standards und Soft Law ersetzt werden.

Wie aber soll der Rechtsstaat funktionieren, wenn das Recht, auf dem er gründet, informatisiert wird? Braucht es vielleicht ganz neue Governance-Modelle? Ein Software-Update für die überkommene Hardware der Demokratie mit ihren jahrzehntealten Institutionen? So etwas wie ein "computational law", ein funktionales Äquivalent zu den programmiersprachlich verfassten Abläufen einer automatisierten Gesellschaft? Ein kybernetisches System mit algorithmischen Feedbackschleifen?

Der US-Rechtsprofessor Joel Reidenberg beschrieb 1997 in seinem Aufsatz "Lex Informatica: The Formulation of Information Policy Rules Through Technology" wie sich analog zur mittelalterlichen Lex mercatoria in der Internet-Infrastruktur ein transnationales Gewohnheitsrecht etablieren könnte: eine Lex Informatica. Die Rechtsquellen speisten sich nicht nur aus Gesetzen und Verwaltungsakten, sondern aus "technologischen Fähigkeiten und System-Design-Vorauswahlen", die allen Teilnehmern verbindliche Regeln auferlegten.

Reidenberg formulierte ein "paralleles Regelungssystem": Statt dem Recht bilden "Architekturstandards" wie Hypertext Transfer Protocol (HTTP), also die Webart des Netzes, den Rahmen der Lex Informatica. Der räumliche Anwendungsbereich der Jurisdiktion beschränkt sich nicht auf das physische Territorium, sondern umfasst die gesamte Netzwerk-Architektur. Statt Verträge gibt es Konfigurationen, die Rechtsdurchsetzung erfolgt nicht über Gerichtsbarkeiten, sondern automatisiert.

Der Jurist beschrieb früh die Funktionsweise dezentraler Datenbanksysteme und Rechtsinstituten wie smarten Verträgen, mit denen man automatisierte Rechtsfolgen herbeiführen kann. Wird die Miete für die Wohnung nicht bezahlt, kann der Wohneigentümer kurzerhand den Schlüssel sperren. Algorithmen machen kurzen Prozess. Reidenbergs Conclusio hob darauf ab, dass sich die Regierungsverantwortlichen der Lex Informatica als einem "nützlichen, extra-legalen Instrument" zuwenden sollen, um ihren Werkzeugkasten "upzudaten". Die Lex Informatica, so die Hoffnung, könnte Regelungsprobleme in der digitalen Welt effektiver adressieren als abstrakt-generelle Normen wie ein Gesetz.

Die Frage ist, ob eine Lex Informatica das geeignetes Instrument ist, die datengetriebene Gesellschaft zu verregeln oder nur ein Vehikel, tradiertes Recht zu unterminieren. Taugen Internetprotokolle als Rechtsrahmen? Oder lassen sich mit Programmiervorschriften auf manipulative Weise soziale Subsysteme "rekonfigurieren"? Das Wesen einer "Lex" ist, dass Rechtsverletzungen sanktioniert werden - und das Recht nicht einfach umgeschrieben wird. Die Autobauer hätten sich einem solchen Regime unterwerfen können. Eigentlich bräuchte es gar kein neues Gewohnheitsrecht. Dass man nicht betrügt, ist eine alte Händlermaxime - und gehört zum Berufsethos des ehrbaren Kaufmanns.

Aus dem Gedanken, dass der Code ein Regulierungssystem konstituiert, ergibt sich, dass ihm bestimmte Grundprinzipien - ähnlich wie Verfassungswerte - immanent sind, die auch zu einer Programmierethik verpflichten. Für den Code, den man in die Welt setzt, ist man nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch verantwortlich. Allerdings sind die Akteure, deren Geschäftspraktiken sich zu einem informatisierten Gewohnheitsrecht verdichten sollen, keiner Kontrollinstanz unterworfen. Was als Meinung durchgeht oder an Schadstoffen emittiert wird, entscheiden in der Letztverantwortung die Konzerne. Die Zielvorgaben der Regierung schnurren zum bloßen Benchmark zusammen, der zwar Rechtsverbindlichkeit beansprucht, aber aufgrund der Komplexität der Regelungsmaterie nicht abschließend durchgesetzt werden kann. Die zentrale Frage ist daher: Wer kontrolliert den Code?

Eine Lex Informatica institutionalisiert ein System ohne Gewaltenteilung, in dem Programmierer die Gesetze schreiben. Wo der Code selbstexekutierend ist, gibt es keinen Hebel, diesen Mechanismus zu durchbrechen. Dieser maschinelle Dezisionismus ist alles andere als demokratisch. Datenbasierte Steuerungsmodelle, von der Lex Informatica bis hin zur Smart City, lesen sich wie die Betriebsanleitung zu einer technoautoritären Herrschaft.

Die Autorin und Software-Unternehmerin Yvonne Hofstetter warnt in ihrem Buch "Das Ende der Demokratie: Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt" davor, dass mit dem Internet der Dinge der Trend, die Gesellschaft mithilfe von Programmcode zu gestalten, weiter zunehmen werde. Der Code wirke nicht nur neben der "hoheitlich normierenden Rechtspraxis", sondern kollidiere mit positivem Recht und grundrechtlichen Prinzipien und etabliere eine "Zwangspraxis".

"Bei der Internetnutzung", so Hofstetter, "sind es schon die kleinsten Programme, die Cookies, die bestimmen, ob man Zugang zu Online-Angeboten erhält oder nicht. Sie sind die Faktizität, die von privaten kommerziellen Einrichtungen außerhalb eines geregelten demokratischen Prozesses geschaffen wurde und der sich die Anwender zwangsläufig beugen." Damit einher geht die Privatisierung der Politik. Gegen den Zwang, den Cookies ausüben, könne man nicht verstoßen - gegen die Normen demokratisch formalisierter Rechtsordnung dagegen schon. Die Möglichkeit aber, gegen positives Recht zu verstoßen, mache eine freie Gesellschaft aus.

Die Politik versucht hate speech und Stickoxide einfach wegzuprogrammieren

Demokratie in ihrer deliberativen Form bedeutet, dass Grenzen ausgetestet und im öffentlichen Raum verhandelt werden - und nicht von intransparenten Codes determiniert werden. Die Delegation von Wertentscheidungen an Algorithmen begrenzt das offene Entscheidungsspektrum der deliberativen Demokratie durch technische Voreinstellungen und macht bestimmte Entscheidungen alternativlos.

Wie beim Thema Hate Speech sucht die Politik bei den Stickoxiden in Dieselfahrzeugen nach einer "Software-Lösung" - als könne man das Problem einfach wegprogrammieren. Das zeigt, dass der Gesetzgeber in der Formulierung von Politiken einer solutionistischen Programmierlogik anheimgefallen ist.

Hasskommentare? Emissionen? Kann man einfach abschalten! Es braucht nur den richtigen Bedienknopf. Das obligate Update erstarkt wie der Cookie zu einem Rechtssatz, gegen den man nicht verstoßen kann. Vielleicht finden in Zukunft nur noch abstrakte Simulationen von Gesellschaft und Politik statt. Allein, was im Realbetrieb der Automobile und in der Sphäre der Realpolitik geschieht, hat mit den Simulationen der Entwickler reichlich wenig zu tun.

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