Reaktion auf Brexit:Auf Twitter schimpfen, dann weiterfeiern

Glastonbury Festival 2016 - Day 3

Nach dem Brexit ist vor der Schlammschlacht: Ein junger Mann mit Boris-Johnson-Maske beim Glastonbury Festival.

(Foto: Getty Images)

Die Jugend Großbritanniens ist vom Brexit entsetzt. Aber obwohl die Wut im englischen Pop eine lange Tradition hat, fällt den Musikern zur Lage der Nation kein böser Song ein. Warum?

Von Jan Kedves

Lässt sich in einer anderen Sprache besser schimpfen als auf Englisch? Derzeit nicht. Seit Bekanntgabe der Brexit-Entscheidung sind in den Twitter- und Facebook-Kanälen britischer Popstars die ätzendsten Tiraden niedergegangen - gewürzt mit herausragenden englischen Wut- und Schock-Adjektiven: "devastated" (verwüstet), "aghast" (entgeistert) oder gar "gutted". Das heißt am Boden zerstört, oder eigentlich sogar entleibt und ausgeweidet. Der "Brexshit" wurde übers Wochenende in der britischen Popwelt nach sämtlichen Regeln des Oxford Dictionary verflucht.

Das aus den Brüdern Guy und Howard Lawrence aus Surrey bestehende Dance-Duo Disclosure etwa twitterte: "What the Fuck!" - und spielte mit dem Gedanken, zum verstorbenen David Bowie auf den Mars zu ziehen. Fluchtfantasien auch bei Liam Gallagher, dem früheren Oasis-Sänger, er forderte: "Halt die Welt an, ich will aussteigen." Und Popsängerin Lily Allen, schon immer eine schlaue Schimpferin, giftete Donald Trump an, nachdem der von Schottland aus getwittert hatte, die Schotten hätten sich ihr Land zurückgeholt. "Scotland voted in, you moron", twitterte Allen zurück - Schottland hat für die EU gestimmt, du Volldepp.

Britische Popstars sind auf Twitter politisch, aber nicht in ihrem Medium - dem Song

All diese Wortmeldungen erfolgten digital und schriftlich, also nicht im Medium, durch das die erwähnten Stars eigentlich bekannt geworden sind: Popmusik. Ist das bemerkenswert? Es ruft auf jeden Fall in Erinnerung, dass Großbritannien über lange Zeit das Land war, das allen anderen vorgemacht hat, wie wütend Popmusik klingen kann, wie wunderbar sich jugendlicher Frust - über Spießertum, Provinzialität, falsche Politik - in störrische Songs des Aufbegehrens hineingießen ließ.

Johnny Rotten

Einfach mal die Wut rausbrüllen: Für Johnny Rotten von den Sex Pistols (hier bei einem Konzert 1976) war das noch tägliche Pflicht.

(Foto: Getty Images)

"My Generation", die auf Amphetaminen herausgerockte Stotterhymne von The Who, wird ja nicht bis heute so gern gehört, weil sie musikalisch so raffiniert komponiert wäre. Sondern weil sie immer noch etwas von der sozialen Blockade spürbar macht, die junge Briten aus der Working Class damals, Mitte der Sechzigerjahre, empfanden. "Hoffentlich sterbe ich, bevor ich alt werde", die berühmte Zeile war eben nicht suizidal, sondern verweigerte die Solidarität mit den Alten, die sich im vermieften Post-Weltkriegs-England an der Macht hielten. Die Jugendlichen im Swinging London verstanden ihre Jugend nicht als Versprechen, sondern als Gefängnis. "Why don't you all f-f-f-f-fade away" - warum sterbt ihr Alten nicht einfach, jetzt? Im gestotterten F steckte das - damals unsprech- und unsingbare - "Fuck", das The Who den Rentnern hinterherspuckten.

Solch eine Wuthymne hat die Generation der jungen Briten, die am Donnerstag mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt hat, die aber von den Alten überstimmt wurde, heute nicht. Der einzige Song, den man als so etwas wie eine Anti-Brexit- oder Pro-Europa-Hymne bezeichnen könnte, ist die hochdepressive, langsam sich dahinhinschleppende Coverversion des Abba-Hits "SOS" der Bristoler Band Portishead. Sie veröffentlichte in der vergangenen Woche ein Video zu dem Song, es ist der ermordeten Labour-Politikerin Jo Cox gewidmet. Deren Tod erscheint nun noch sinnloser als zuvor. "SOS" mag ein kleiner Anti-Brexit-Hit sein, mit 600 000 Klicks ist es jedenfalls kein großer. Vor allem ist es kein Hit, der auch nur ein bisschen Wut transportierte.

Warum es keinen Anti-Brexit-Pop gibt

Wo ist der geniale, schroffe Furor hin, mit dem die Sex Pistols gegen England und seine Nationalduseligkeit lärmten? Der Pop- und Punk-Historiker Jon Savage hat in seinem Buch "England's Dreaming" nachgezeichnet, auf welches gesellschaftliche Klima 1977 deren Song "God Save The Queen" - mit der Zeile "There's no future in England's dreaming" (Englands Traum hat keine Zukunft) - reagierte: hohe Arbeitslosigkeit und die damit in breiten Teilen der Gesellschaft einhergehende Sehnsucht nach vergangener Größe des Empires, eine nostalgische Verklärung des Viktorianismus. Das Panorama lässt sich mit dem aktuellen in England, wo Renter, die zum ersten Mal in ihrem Leben gewählt haben, in Fernsehkameras bellen, endlich hätten sie ihr Land zurück, durchaus vergleichen.

Auf dem Popfestival weinte die Jugend vor ihren Zelten - dann wurde erst mal weitergefeiert

Am Wochenende fand in Glastonbury in Somerset das gleichnamige Pop- und Rockfestival statt, mit knapp 150 000 Besuchern. War die Stimmung dort vom Brexit gedrückt? Der deutsche DJ Prosumer, der gleich zweimal dort auftrat und privat seit einigen Jahren in Edinburgh lebt, berichtet, am Freitagmorgen hätten viele Festivalbesucher zunächst völlig ungläubig vor ihren Zelten um Radios herumgesessen. Manche hätten geweint. Aber irgendwie hätten sich die meisten dann doch entschlossen, erst mal weiterzufeiern und "sich mit der Realität erst wieder ab Montag auseinanderzusetzen".

Mit dem Lamento, Pop sei im neuen Jahrtausend unpolitisch geworden, eigne sich vielleicht noch zur Untermalung von Shampoo-Werbung und zum Feiern, macht man es sich aber auch zu einfach. Wie hätten Musiker denn die verdrehte Dynamik des EU-Referendums überhaupt in einen wütenden Song packen sollen? Das Referendum wurde ja nicht von jemandem angestrengt, der Großbritannien unbedingt aus der EU heraushaben wollte, sondern von einem, der eigentlich gern drin geblieben wäre, sich aber mit dem Kalkül, das könne er sich mal eben vom Volk bestätigen lassen, verzockt hat. Anti-Brexit-Pop hätte, so gesehen, nicht nur das Problem gehabt, dass er für die europäische Idee hätte werben müssen, sondern dass er dabei irgendwie automatisch auch für den nun zurücktretenden David Cameron geworben hätte. Während der klassische britische Wutpop der Sechziger- und Siebzigerjahre seine Kraft natürlich aus der reinen Negation schöpfte, aus dem jederzeit bedingungslosen Dagegensein.

In solch einer verfahrenen Situation halten die Popstars heute Meinung und Musik auseinander. Twitter und Facebook nutzen sie als Blitzableiter, um die Wut rauszulassen - aber die Musik bleibt davon unberührt. Thom Yorke etwa, Sänger der Post-Rock-Band Radiohead, singt höchstens mal Zeilen wie diese: "We are accidents waiting to happen" - wir sind Unfälle, die nur darauf warten zu passieren. Interpretieren lässt sich das in alle möglichen Richtungen. Via Twitter hingegen teilte Yorke den Link zu der Petition, die eine erneute Abstimmung fordert und die inzwischen über drei Millionen Unterzeichner zählt. Auch postete er diesen Satz: "Old UK turkeys vote for Christmas and then get very confused . . . " - alte britische Truthähne stimmen für ihre eigene Schlachtung zu Weihnachten und sind danach ganz durcheinander. Sicher ein Seitenhieb darauf, dass die populärste Google-Suche in Großbritannien nach Bekanntgabe des Ergebnisses genau dieser Satz war: Was ist eigentlich die EU? Können britische Rentner googeln?

Auf Twitter schimpfen und spotten, in der Musik eher diffus bleiben, weiterfeiern. So sieht der aktuelle britische Wutpop aus. Mit dem alten britischen Wutpop hat er nicht mehr viel gemein.

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