Julie Delpy über ihre französischen Wurzeln:"Obszönitäten? In Frankreich ganz normaler Slang"

Sie fühlt sich als Französin, doch sie lebt in Amerika: Für Julie Delpy sind die kulturellen Unterschiede zwischen ihrem Herkunftsland und ihrer Wahlheimat zu einem Lebensthema geworden, das sie nun in ihrem neuen Film "2 Tage New York" erneut verarbeitet. Ein Gespräch über Partytiere im 16. Jahrhundert, Poesie und Pornografie.

Paul Katzenberger

Ihr Gesicht sei das einer großen deutschen Romantikerin, soll Max Frisch über Julie Delpy gesagt haben. Doch obwohl die Französin 1991 in der deutschen Max-Frisch-Verfilmung "Homo Faber" von Volker Schlöndorff den internationalen Durchbruch schaffte, wandte sie sich vom intellektuellen, europäischen Kino ab und Hollywood zu. Dort demonstrierte die Tochter eines Pariser Schauspieler-Ehepaars ihre Begabungen in so unterschiedlichen Filmen wie "Die drei Musketiere", "Killing Zoe!" und "Before Sunrise". Für "2 Tage Paris" (2007) führte Delpy schließlich das erste Mal Regie in einem langen Film, für den sie auch das Drehbuch schrieb und die Hauptrolle übernahm. Mit Erfolg - die Parodie auf die kulturellen Unterschiede zwischen Franzosen und Amerikanern bekam von der Kritik gute Noten und war für den César nominiert. Wie sehr das Thema Delpy beschäftigt, die selbst seit mehr als 20 Jahren in den USA lebt, zeigt ihr Fortsetzungsfilm "2 Tage New York", der nun in die deutschen Kinos kommt.

ROMANIA-TRANSYLVANIA FILM FESTIVAL- JULIE DELPY

"Na und! Das ist doch keine Staatsaffäre." Julie Delpy hält die Dialoge in "2 Tage New York" nicht für obszön: "Das ist in Frankreich normaler Slang."

(Foto: AFP)

Süddeutsche.de: Frau Delpy, Sie scheinen ein Faible für das Chaos zu haben. Zumindest herrscht in Ihrem neuen Film "2 Tage New York" ein ständiges Durcheinander.

Julie Delpy: Das ist mein Verständnis von einer Komödie. Eine Komödie ist eine verrückte Aktion nach der anderen.

Süddeutsche.de: Und die echte Julie Delpy, mag die auch das Chaos?

Delpy: In meinem realen Leben mag ich es ruhig. Ich lebe sehr zurückgezogen und will nur ungern gestört werden. Ich bleibe am liebsten zu Hause, um zu lesen oder zu schreiben.

Süddeutsche.de: In "2 Tage New York" begegnet der Zuschauer wieder der von Ihnen gespielten Marion aus "2 Tage Paris". Sie hat inzwischen einen kleinen Sohn, die Beziehung mit Jack ist gescheitert, nun ist Mingus an ihrer Seite. Auch der Schauplatz ist ein anderer - aus Paris wurde New York. Der grundsätzliche Plot hat sich aber kaum geändert. Wieder erlebt ein amerikanischer Lebensgefährte Marions beim Aufeinandertreffen mit ihrer französischen Familie einen Zusammenstoß der Kulturen. In welcher Hinsicht unterscheidet sich "2 Tage New York" von "2 Tage Paris"?

Delpy: Für Marion steht inzwischen mehr auf dem Spiel. Mit einer Beziehung ist sie gescheitert, jetzt versucht sie es mit einem neuen Partner. Sie ist älter geworden, und es wird zunehmend schwieriger, ihren Lebenswünschen Geltung zu verschaffen. Ihre Mutter ist inzwischen gestorben, das ist eine Erfahrung, die wir alle machen: Vertraute Menschen treten aus unseren Leben, gleichzeitig lernen wir neue Menschen kennen. Vor allem ist "2 Tage New York" aber eine Komödie und noch stärker als "2 Tage Paris" als solche strukturiert, obwohl die dunklen Wolken, die ich gerade erwähnt habe, im Hintergrund zu erkennen sind.

Süddeutsche.de: Trotzdem haben die beiden Filme einen grundsätzlichen Aspekt gemeinsam: Unschuldige und ziemlich zivilisierte Amerikaner werden ...

Delpy: Sie sind die Opfer (lacht).

Süddeutsche.de: ... mit Jeannot, Rose und Manu konfrontiert. Also Franzosen, die außer Essen, Spaß und Sex nichts im Sinn zu haben scheinen. Die Amerikaner sind bei Ihnen hingegen immer ziemlich ernst, puritanisch und etwas unlocker.

Delpy: Mingus ist doch ein ziemlich entspannter Typ. Er versucht, nett zum Vater zu sein. Er fühlt sich erst etwas unwohl in seiner Haut, als er erfährt, dass Manu, den Marions Schwester Rose mitgebracht hat, ein Ex-Freund von Marion ist.

Süddeutsche.de: Ganz genau.

Delpy: Amerikaner sind immer schnell mit einem Urteil zur Hand, dass jemand psychisch gestört ist. Die Gebildeten unter ihnen, so wie Mingus, begegnen dem Leben als Freudianer. Sie fangen an zu analysieren und stellen Fragen wie: 'Was hat das zu bedeuten: Die Schwester bumst mit dem Ex?' Auf eine Art hat er ja auch recht - es ist etwas gestört.

Süddeutsche.de: Sein Rechthaben nutzt ihm im Film aber wenig.

Delpy: Sein Weltbild ist schnell erschüttert. Er ist nicht wirklich verklemmt, ein verklemmter Amerikaner ist noch mal was völlig anderes. Er ist nur völlig baff, als der Vater im Badehaus jedem seine Eier zeigt.

Süddeutsche.de: Und damit stellen Sie ihn bloß. Ein netter Kerl, eigentlich vernünftig, dessen engstirnige Sozialisation verhindert, dass er mit lustigen, sexuell unverkrampften und letztendlich harmlosen Franzosen keinen Spaß haben kann, genau wie Jack in "2 Tage Paris".

Delpy: Am Anfang scheint es für ihn noch okay zu sein, abgesehen davon vielleicht, dass Marions Ex-Freund die Schwester bumst. Doch dann fangen die Franzosen an, ihren Müll im Gebäude herumliegen zu lassen und erweisen sich als ziemlich unerzogen. Aber das klingt jetzt schlimmer, als sie wirklich sind.

Süddeutsche.de: Aber immer dominieren die Franzosen das Geschehen. Als bekannt wurde, dass Sie nun einen Film mit dem Titel "2 Tage New York" gemacht haben, konnte man hoffen, dass Sie den Amerikanern Gelegenheit zu einer Revanche geben würden.

Delpy: Sie meinen, jetzt sind die Amerikaner mal flegelhaft zu den Franzosen? Das funktioniert meiner Meinung nach nicht, denn Amerikaner sind in der Regel sehr zivilisiert. Wenn Sie nicht gerade mit Verrückten der weißen Unterschicht zu tun haben, die ihre Töchter missbrauchen und andere Dinge machen, dann sind die Leute gastlich und freuen sich, Sie bei sich haben zu können. Und außerdem mag ich dieses Konzept von den ungezogenen Franzosen einfach sehr gern.

Süddeutsche.de: Das merkt man, und es mag ja witzig sein, aber ist es nicht auch unfair? Man kann Ihnen zwar nicht vorwerfen, dass Sie die Franzosen idealisieren: Der Vater riecht, der Taxifahrer erzählt, dass er seine Frau schlägt und es fallen rassistische Bemerkungen. Doch am Schluss sind doch immer die Franzosen diejenigen, die sich amüsieren und eigentlich doch gut rüberkommen. Die Amerikaner sind zwar nett, werden aber schikaniert und leiden darunter.

Delpy: Ja, das ist richtig. Und das beschreibt sie im echten Leben wahrscheinlich recht gut.

Süddeutsche.de: Ist das Ihre ehrliche Einschätzung? Die Amerikaner sind zwar liebenswert, aber unfähig, sich zu amüsieren?

Delpy: Wissen Sie, viele meiner französischen Freunde leben wie ich in den USA, und Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Spaß wir miteinander haben, wenn wir uns zum Dinner verabreden. Ich glaube kaum, dass dieses Spaßniveau noch getoppt werden kann. Wir lachen uns über Dinge kaputt, die für Außenstehende kaum nachzuvollziehen sind.

Süddeutsche.de: Und Nichtfranzosen können Ihrer Meinung nach nicht derartig hemmungslos lachen?

Delpy: Franzosen haben keine Angst, untereinander auf alle Benimmregeln zu pfeifen und sich politisch unkorrekt zu verhalten, ohne es dabei wirklich böse zu meinen.

"Franzosen verabscheuen den Herdentrieb"

Süddeutsche.de: Der ultimative Spaß ist Ihrer Meinung nach nur durch Flegeleien zu bekommen?

Julie Delpy über ihre französischen Wurzeln: Wenn der Amerikaner mit dem Franzosen ins Badehaus geht: Mingus (Chris Rock, links) ist völlig baff, als Jeannot (Albert Delpy) dort "jedem seine Eier zeigt" (Szene aus "2 Tage New York").

Wenn der Amerikaner mit dem Franzosen ins Badehaus geht: Mingus (Chris Rock, links) ist völlig baff, als Jeannot (Albert Delpy) dort "jedem seine Eier zeigt" (Szene aus "2 Tage New York").

(Foto: Senator Film Köln)

Delpy: Frankreich ist eine große Kulturnation voller freigeistiger Menschen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, es gibt viele Arschlöcher in Frankreich, aber es besteht eine weitreichende Kultur der geistigen Unabhängigkeit.

Süddeutsche.de: Mehr als bei den Amerikanern, die das Individuum über alles stellen?

Delpy: Nehmen Sie an, Sie sind bei einer amerikanischen Dinner-Party, und dort ist ein Franzose, der einen Amerikaner provoziert. Auf Anhieb werden sich alle anderen Amerikaner hinter ihren herausgeforderten Landsmann stellen und dabei alle einer Meinung sein. Nun stellen Sie sich umgekehrt einen Amerikaner vor, der einen Franzosen provoziert. Die anderen Franzosen werden alle im Widerspruch zueinander stehen. Sie hätten sofort ein Chaos.

Süddeutsche.de: Ist das nicht zu schematisch gedacht? Was macht Sie so sicher?

Delpy: Meine Herkunft: Die Franzosen verabscheuen den Herdentrieb, sie wollen nicht in Gruppen sein, deren Mitglieder alle das Gleiche denken. Stattdessen sind sie permanent unterschiedlicher Meinung und streiten sich ständig. Ich fühle mich in der Gesellschaft solcher Leute wohler, weil ich so sozialisiert wurde. Für mich ist es unheimlich, wenn in einer Gruppe alle dieselbe Meinung vertreten und einander blind folgen.

Süddeutsche.de: Sie scheinen also doch ein Faible für das Chaos zu haben.

Delpy: In diesem Sinne ja, denn es hat Vorteile: Zum Beispiel lassen sich die Franzosen keiner Kontrolle unterwerfen. Würde sich in Frankreich morgen eine Diktatur bilden, wäre diese nach kurzer Zeit gescheitert. Denn da wären einfach zu viele Menschen, die ihre Zustimmung verweigern würden. Die Situation würde sehr schnell außer Kontrolle geraten. Während ihrer gesamten Geschichte haben die Franzosen in Widerspruch zu einander gestanden. In der Dreyfus-Affäre waren die Menschen entweder für oder gegen Dreyfus, jeder mischte sich ein und am Schluss waren alle unterschiedlicher Meinung.

Süddeutsche.de: Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für diese Aversion gegen den Gruppenzwang, die Sie für typisch französisch halten?

Delpy: Es ist ganz einfach. Es liegt an unserer Erziehung. Jeder muss in Frankreich mindestens ein Jahr lang Philosophie in der Schule belegen. Das heißt: Jeder entwickelt seine eigene Kritikfähigkeit. Bei den Amerikanern wird Philosophie zwar auch vermittelt, aber nur als Wahlfach. Und tatsächlich sind einige der klügsten Menschen, die ich kenne, Amerikaner. Das hat aber zur Voraussetzung, dass sie diesen Bildungsweg gewählt haben. In Frankreich muss hingegen wirklich jeder lernen, wie er sich seine eigene Meinung über Dinge bildet.

Süddeutsche.de: Sind die Obszönitäten, die geradezu ein Markenzeichen von "2 Tage Paris" und "2 Tage New York" sind, auch typisch französisch? Sie sagen ja, dass Sie und Ihre französischen Freunde sich keinerlei Benimmregeln unterwerfen.

Delpy: Ich würde nicht von Obszönitäten sprechen. Das ist in Frankreich normaler Slang.

Süddeutsche.de: Ich bitte Sie. Die ganze Zeit wird über Geschlechtsorgane diskutiert - bis ins Detail.

Delpy: Da haben Sie recht. Na und! Das ist doch keine Staatsaffäre.

Süddeutsche.de: Keine Staatsaffäre, aber es fällt auf. So was hört man hierzulande nicht jeden Tag.

Delpy: Aber die Franzosen sind so. Sie sprechen über intime Dinge. Ich habe meinen Eltern meine sexuellen Erfahrungen immer bis ins Detail geschildert. Hinzu kommt, dass die Umgangssprache in Frankreich sexuell sehr aufgeladen ist - schon bei Kindern. Wenn ich mir beispielsweise irgendwo mein Knie anstoße, sage ich zu mir selbst: 'Putain, je me suis fait mal' - also "Du Hure, das tut weh'.

Süddeutsche.de: Ähnliche Ausdrücke gibt es in Deutschland auch. Aber dass in einem ganzen Kinofilm, der kein Erotikfilm ist, eine Zote die andere ablöst, ist eher ungewöhnlich.

Delpy: So wie ich in dem Film rede, so redet jeder französische Radio-Moderator - jeden Tag. Und wissen Sie was? Sie sind dabei noch zehn Mal schlimmer als ich. Ich war zu der Radiosendung "Les Grosses Tetes" ("Die großen Köpfe", Anm. d. Red.) von Philippe Bouvard eingeladen. Er ist einer der bekanntesten Intellektuellen des Landes. Jede einzelne Äußerung in seiner Sendung war über Sex, das hat sogar mich schockiert, denn das bedeutet nichts anderes, als dass die wichtigste Radiosendung Frankreichs nur aus Sex besteht. Aber das juckt dort niemanden.

Süddeutsche.de: Frankreich gilt bei uns als Land der Erotik und der Liebe, aber dass es diese Formen annimmt, dürfte manchen hier erstaunen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Delpy: In der französischen Kultur schließen sich Intellekt und Sexualität nicht aus. Das heißt, es gibt für Intellektuelle kein Verbot, obszöne Begriffe zu verwenden. Ganz im Gegenteil: Intellektuelle spielen bei uns besonders gern mit diesem speziellen französischen Slang. Ich würde diese Haltung als "rabelaisienne" bezeichen.

Süddeutsche.de: Das müssen Sie erklären.

Delpy: Dieser Begriff geht auf François Rabelais zurück - einen Schriftsteller aus dem 16. Jahrhundert. Er schrieb Bücher wie "Gargantua" über einen Riesen, der ein dickes Monster ist, ganze Schweine vertilgt, viel Sex hat und nächtelang durchfeiert.

Süddeutsche.de: Ein Partytier im 16. Jahrhundert - allerhand für eine Zeit, in der die Menschen auch in Frankreich noch sehr gottesfürchtig waren.

Delpy: Rabelais ist bei weitem nicht das einzige Beispiel, das ich Ihnen nennen kann. Nehmen Sie Denis Diderot - einen unserer großen Denker. Er schrieb ein Buch mit dem Titel "Les bijoux indiscrets" ("Die geschwätzigen Kleinode", Anm. d. Red.), in dem sich ein Penis und eine weibliche Scheide unterhalten. Wir reden hier vom 18. Jahrhundert und einer anerkannten Geistesgröße der Nation. Die französischen Dichter und Denker taten sich bei der Beschreibung von Sexualität immer schon hervor.

"Die Selbstkritik über viele Jahre hinweg verstimmt die Deutschen"

Julie Delpy über ihre französischen Wurzeln: Ein ständiges Durcheinander: Marion (Julie Delpy, links) mit ihren "Lieben" aus Frankreich in "2 Tage New York": Manu (Alexandre Nahon), Rose (Alexia Landeau) und Jeannot (Albert Delpy, von links).

Ein ständiges Durcheinander: Marion (Julie Delpy, links) mit ihren "Lieben" aus Frankreich in "2 Tage New York": Manu (Alexandre Nahon), Rose (Alexia Landeau) und Jeannot (Albert Delpy, von links).

(Foto: Senator Film Köln)

Süddeutsche.de: Sie adeln die sexuelle Aufladung der französischen Umgangssprache, die Sie beschreiben, indem Sie die großen Poeten der Grande Nation zu deren Urhebern machen?

Delpy: Ja. Nehmen Sie Georges Bataille, der viele Bücher schrieb, die sprachlich wunderschön sind, aber voller Sex. Wenn Sie diese Werke auf Französisch lesen, dann ist es Poesie. Übersetzen Sie sie auf Englisch, dann ist es Pornografie. Wie ist das möglich? Allein durch diesen Umstand erkennen Sie die Freigeistigkeit der französischen Kultur, die ein großer Teil von mir ist, denn da sind meine Wurzeln.

Süddeutsche.de: Sie schwärmen so von Frankreich, dass ich mich mittlerweile frage, warum Sie in den USA leben.

Delpy: Weil ich die USA liebe. Ich mag die Arbeitsmoral der Amerikaner. Die Franzosen hadern oft mit ihren täglichen Verpflichtungen und können dabei sehr unangenehm werden. Sie beklagen sich ständig und die Pariser sind sowieso anstrengend. Ständig hupen sie, schreien herum und streiten sich. Ich liebe Frankreich, aber wenn ich länger als drei Monate dort bin, drehe ich durch.

Süddeutsche.de: Klingt ganz schön vertrackt.

Delpy: Stimmt. Mein Leben ist kompliziert. Ich liebe Frankreich und ich hasse es. Ich liebe die USA und gleichzeitig weiß ich, dass meine Mentalität eher französisch ist. Doch ich ziehe die USA als Wohnsitz vor, denn die Leute sind dort eben zivilisierter.

Süddeutsche.de: Dem französischen Filmportal FilmDeCulte.com haben Sie anlässlich des kürzlichen Kinostarts von "2 Tage New York" in Frankreich hingegen eine andere positive Eigenschaft der Amerikaner genannt: die Fähigkeit zur Selbstkritik.

Delpy: Stimmt. Denn die Unfähigkeit zur Selbstkritik ist in der Tat ein Aspekt, den ich an Frankreich überhaupt nicht mag. Dort wird zum Beispiel nie über den Algerienkrieg gesprochen. Es gibt sehr wenige Filme zu dem Thema und der Einzige, der je einen gemacht hat, war Gillo Pontecorfo mit "Schlacht um Algier" und der war Italiener. Kein Mensch in Frankreich regt sich über die so genannten Pétainists auf. So bezeichnet man bei uns die Leute, die sich während des Zweiten Weltkriegs dem Vichy-Regime und dessen Marionettenregierung unter Philippe Pétain angeschlossen hatten. Die Deutschen setzen sich mit ihren Nazis hingegen kritisch auseinander.

Süddeutsche.de: Dann mögen Sie die Deutschen wahrscheinlich besonders gern, denn die sind zur Selbstkritik fähig wie kaum ein anderes Volk.

Delpy: Vielleicht schon zu sehr. Diese Selbstkritik über viele Jahre hinweg verstimmt die Deutschen innerlich. Und Menschen, die mit sich selbst nicht im Reinen sind, sind nicht glücklich.

Süddeutsche.de: In den vergangenen fünf Jahren haben Sie in Ihren Filmen alle entscheidenden Funktionen selbst ausgeübt: Drehbuch, Regie und Hauptrolle. Haben Sie es genossen, alles kontrollieren zu können?

Delpy: Oh ja.

Süddeutsche.de: Werden Sie irgendwann einmal wieder unter einem Regisseur arbeiten?

Delpy: Da stoße ich inzwischen auf ein Problem, und zwar, weil meine Filme nicht schlecht sind, und ich als Darstellerin darin ebenfalls einigermaßen überzeuge. Ich hörte von jemandem, dass ein Regisseur mit mir arbeiten wollte, ihn dann aber Zweifel überfielen. Denn er fragte sich, ob die Leute ihm die Schuld dafür geben würden, wenn ich bei ihm nicht so gut bin wie in meinen eigenen Filmen.

Süddeutsche.de: Gäbe es denn Regisseure, mit denen Sie gerne zusammenarbeiten würden?

Delpy: Ja, mit coolen Leute, die ich kenne, zum Beispiel mit Gustave de Kervern und Benoît Delépine. Ihr Film "Mammuth" war großartig. Er erinnert mich an das, was das französischen Magazin Charlie Hebdo macht, nämlich grandiose Polit-Satire. Typisch französisch: verrückt und sehr freigeistig.

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