Jugendroman:Leben ohne Berührung

"Schlaft gut ihr fiesen Gedanken", John Greens Geschichte vom Überleben, die zeigt, wie eine psychisch kranke Jugendliche lernt, trotzdem zu leben.

Von Roswitha Budeus-Budde

Bei den besten Gesprächen erinnert man sich nicht daran, worüber man gesprochen hat, sondern wie es sich angefühlt hat", schreibt Davis an Aza, nach ihrem Gespräch im Garten, als sie über den Sternenhimmel philosophierten. Wie fühlt es sich an für die Sechzehnjährige, mit einer schweren psychischen Störung zu leben? Mit einer Phobie vor Körperflüssigkeiten, die sie wie in einer Spirale in einen Abgrund entsetzlicher Angstzustände versetzt. John Green lässt in seinem neuen Buch "Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken", seine Heldin die äußersten Grenzen seelischer Schmerzen erfahren. Und sie wird in diesem Herbst lernen, wie es gelingen kann, mit der psychischen Krankheit zu leben, denn eine Heilung scheint nicht möglich zu sein. Jahre später schreibt sie über diese Zeit. Als inzwischen erwachsene Erzählerin scheint dieses Buch für sie selbst eine Therapie zu sein. Im Nachwort deutet John Green an, dass eigene Erfahrungen mit eingeflossen sind.

Die Anfangsszene zeigt eine Gruppe Jugendlicher in der Mensa einer Highschool in Indianapolis. Wie in allen Büchern spielen die Freunde, die Eltern, der Alltag bei John Green wichtige Rollen. Hier ist es die quirlige, freche, kämpferische Daisy, die die Gesprächsrunde anführt. Seit Kindertagen ist sie die Freundin von Aza, nennt sie liebevoll Holmesy und fühlt sich für sie verantwortlich: "Holmesy, alles klar bei dir? fragte Daisy. Ich nickte. Manchmal fragte ich mich, warum sie mich mochte oder wenigstens ertrug. Warum mich irgendwer ertrug. Ich fand mich selbst unerträglich." Besonders an diesem Tag, an dem sie von ihrer kranken Psyche gezwungen wird, immer wieder den Artikel über Mikrobiome zu lesen und sich wie eine mit "Haut überzogene Bazillenkolonie" zu fühlen. Oder ständig dieselbe kleine Wunde an einer Fingerkuppe aufkratzen muss, um zu kontrollieren ob sie blutet und desinfiziert werden muss.

John Green

Fünf Jahre nach John Greens großem literarischen Erfolg „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“, erscheint heute sein neues Buch „Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“.

(Foto: Richard Drew/AP)

Mit der Figur der Daisy erfüllt John Green die Erwartungen seiner jugendlichen Leser auf ungewöhnliche Ereignisse, einen Hauch von Abenteuer und Verrücktheit und den Spaß an einer witzigen direkten Sprache und despektierlichem Verhalten. So hat Daisy auch über Jungs eine eher skeptische Meinung. "Das Problem bei Jungs ist, dass 99 Prozent ganz okay sind. Wenn du sie einmal waschen und ordentlich anziehen könntest, und ihnen beibringen, gerade zu stehen, dir zuzuhören und nichts blödes zu sagen, dann wären die meisten völlig akzeptabel." Als beste Freundin übernimmt sie die Dramaturgie dieser Geschichte und katapultiert Aza aus ihrer krankhaften Selbstbezogenheit direkt in eine ungewöhnliche Krimigeschichte, in der ein verschwundener Milliardär im Mittelpunkt steht. Daisy will sich an der Suche nach ihm beteiligen, will die 100 000 Dollar, die als Fahndungslohn ausgeschrieben sind. Geld, das sie für ihr Studium braucht, daher kennt sie bei der Suche keine Skrupel: "Wir leben den amerikanischen Traum und der ist, vom Unglück anderer zu profitieren".

Für diese Aktion benötigt sie aber die Hilfe von Aza, die Davis, den Sohn des Flüchtigen in einem Trauercamp für Kinder traf, als seine Mutter und ihr Vater gestorben waren. Aza erinnert sich an ein Gefühl der Nähe, das zwischen beiden sofort wieder aufflammt, als sie sich begrüßen, ohne sich zu berühren, "was Azas bevorzugte Form der Begrüßung war." Aber wie kann sich eine Liebe entwickeln, wenn keine Nähe möglich ist, wenn bei Aza nach jedem Kuss Panikattacken ausbrechen, die sie nicht beherrschen kann? Die sich trotz Sitzungen bei der Therapeutin immer mehr steigern und nach einem Streit mit Daisy in einer Katastrophe enden.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag auf seiner Homepage zur Verfügung.

John Green findet eine Möglichkeit behutsamer Annäherung, er setzt das Internet als Medium der Verständigung ein. Aza sucht die Seiten und Blogs von Davis, findet seine Einträge mit Zitaten aus der Literatur, zum Beispiel von Salinger oder Shakespeare, unterbrochen von eigenen Gedichten des Jungen. Der selbst, wie sein kleiner Bruder durch das Verschwinden des Vaters traumatisiert ist. Aza liest seine Einträge wie Tageslosungen, voller Hoffnung für beide.

Die Erwartung des Lesers, dass nach dramatischen Ereignissen mit kathartischer Wirkung Aza frei von ihren Ängsten der "Lotse ihres Verstandes" sein wird, erfüllt sich nicht. Aber sie kann sich mitteilen und findet so die Hilfe der Mutter und auch der Therapeutin. Ein Leben mit der Krankheit und auch mit Davis scheint möglich zu sein, denn wer auf Wiedersehen sagt, glaubt, dass er zurückkommt.

Es ist wieder die besondere Sprache von John Green, der hier, mit einer großen Intensität und Empathie, das ungewöhnliche Drama eines Lebens aufzeichnet, ohne die Hoffnung zu vergessen.

John Green: Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Carl Hanser Verlag, München 2017. 285 Seiten, 20 Euro.

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