Jugend und Gewalt:Draußen, unten, unter sich

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Die alte Leere, die neue Wut: Soziologen ziehen einen beunruhigenden Vergleich zwischen deutschen und französischen Migrantenkindern.

Alex Rühle

"Wir haben gewonnen", sagte einer der Jugendlichen damals. Wie das, fragte ihn der Mann vom Fernsehen, inmitten verkohlter Autoskelette, soeben hatten die Jugendlichen die letzten Reste an Infrastruktur angezündet, die es hier im Norden von Saint-Denis gab. "Weil die Welt auf uns geschaut hat, weil die Polizei kam, und weil der Bürgermeister erstmals aus seinem Rathaus kam."

Bilder von den Unruhen in Frankreich Ende 2005: "Jetzt bin ich wieder zu Hause, schlafe tagsüber und hänge nachts draußen rum." (Foto: Foto: dpa)

Wann, so fragten seinerzeit die deutschen Medien geradezu mit Angstlust, wann wird es bei uns in Berlin oder Hamburg ähnliche Aufstände geben? 10.000 Autos sind während der Unruhen im November 2005 in Frankreich verbrannt, die Schäden beliefen sich auf 250 Millionen Euro, 5000 Jugendliche wurden verhaftet, 600 verurteilt.

Eineinhalb Jahre später fragt einer der Soziologen, die sich im Centre Marc Bloch in Berlin treffen, um über die Unruhen und die Lage junger Migranten in Deutschland und Frankreich zu reden, den 23-jährigen Abdel Khader, ob sich seitdem etwas geändert habe. "Nein", sagt der Sohn malischer Einwanderer, der in der Cité des 4000 in Saint-Denis lebt, es sei alles beim Alten, Arbeitslosigkeit, Polizeischikanen, Beschaffungskriminalität...

Die Revolution gegen alles

Der schüchterne Schwarze sitzt als eine Art Zeitzeuge auf dem Podium, er war dabei damals, und spricht die ganze Zeit von der Revolution. "Die Revolution war die einzige Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen. Wir hatten Dinge zu sagen, aber wir wussten nicht, wem."

Khader war inzwischen mit Hilfe des CVJM ein Jahr in Deutschland, als Hilfspfleger, das war das glücklichste Jahr in seinem Leben, früh aufstehen, arbeiten, abends müde einschlafen. "Jetzt bin ich wieder zu Hause, schlafe tagsüber und hänge nachts draußen rum." Ob er eine Lösung sehe für sich? Die Schule, sagt er, nur die Schule. "Eine gute Ausbildung ist die einzige Chance, rauszukommen."

Leider dekonstruierten dann gleich mehrere der anwesenden Soziologen in ihren Vorträgen genau diese Hoffnung. Olaf Groh-Samberg und Ingrid Tucci vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin wiesen in ihrem Vergleich der sozioökonomischen Integration von Jugendlichen in Frankreich und Deutschland darauf hin, dass die Schule selbst zwar noch immer der Ort in der französischen Gesellschaft sei, in der das große republikanische Versprechen von der égalité aller Bürger gehalten werde.

Die Schulabschlüsse der Immigrantenkinder unterscheiden sich kaum von denen der französischstämmigen Jugendlichen. Aber nach der Schule erfahren die Migranten dann, dass ihnen ihr Zeugnis nichts nützt - sie finden keine Jobs, egal ob sie nun gute Abschlüsse haben oder schlechte.

Ein Fall für den Kärcher

Den deutschen Türken dagegen macht man hierzulande gar nicht erst die Illusion, dass sie dieselben Chancen haben wie die Deutschen. Keiner verspricht ihnen Gleichheit. Im Gegenteil, sie erfahren bereits an den Hauptschulen, wo ihr Platz ist. Draußen, unten und unter sich.

Im direkten Vergleich schneidet Deutschland trotz des außerordentlich geringen Anteils hoher Bildungsabschlüsse unter Deutsch-Türken fast besser ab als Frankreich: Die Jugendarbeitslosigkeit war hierzulande in den vergangenen Jahrzehnten niedriger als in Frankreich. Die Armut unter französischen Jugendlichen ist fast doppelt so groß wie unter gleichaltrigen Deutschen. Zudem ist die Segregation am städtischen Rand in Frankreich größer als in Deutschland. Die Banlieues sind viel größer als deutsche Großraumsiedlungen und de facto abgeschottet vom Rest der Stadt.

Die Hauptschule als Zentrifuge der "Entmischung"

Umso schockierender war, wie häufig die negativen Folgen des dreigliedrigen deutschen Schulsystems hervorgehoben wurden. Für den Berliner Armutsforscher Martin Kronauer wirkt die Hauptschule wie eine Zentrifuge, die zur sozialen "Entmischung" führe, zur selektiven Abwanderung einkommensstarker Haushalte, was wiederum die Armut bei den Zurückgebliebenen verstärke. Kein Wunder, dass die Hauptschüler in ihrem Verhalten oft ihre Chancenlosigkeit antizipieren und damit wiederum verstärken.

Etwas ganz Ähnliches ließ sich bei Abdel Khader beobachten. Was er denn davon halte, vom Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy als racaille, also als Gesindel bezeichnet zu werden, wurde er gefragt. Als solches hatte der damalige Innenminister schon im August 2005 die Jugendlichen in den Banlieues beschimpft.

"Nein", sagte Abdel, und musste selber lächeln, als er die "feinen Unterschiede" innerhalb der Banlieue erklärte, "das Gesindel, das waren die in Argenteuil, mich muss man mit dem Kärcher wegspritzen." Bei einem Besuch der Cité des 4000, dieses Monstrums, das wie ein Architektur gewordener Albtraum der französischen Gesellschaft in Saint-Denis steht, hatte Sarkozy gesagt, man müsse das ganze Ding von Grund auf "mit dem Kärcher reinigen". So zeigt Khader, dass sich die Jugendlichen die Beleidigungen angeeignet haben wie Brands, wie Marken, die sie voneinander unterscheiden.

Spiel mit der Zeitbombe

Von ferne mag das an die Strategie der Schwarzen erinnern, die in den Sechzigern den despektierlichen Ausdruck Nigger plötzlich affirmativ gebrauchten. Allerdings hatten die bürgerbewegten Schwarzen damals genaue Forderungen, und sie waren politisch organisiert. Das Unheimliche an den französischen Unruhen war hingegen, dass es keine Forderungen gab. Keine Sprecher. Nichts.

Der Pariser Soziologe Olivier Masclet beschrieb in seinem bestürzenden Vortrag die Banlieue als politisches Waste Land, aus dem sich alle Parteien und sozialen Verbände zurückgezogen haben. Als während der Unruhen Bürgerforen einberufen worden seien, um die Gründe für den Aufruhr zu erläutern, habe sich kein einziger Jugendlicher geäußert, um Forderungen vorzutragen. So sah Masclet die Unruhen auch nur als destruktives Echo auf die Leere und Anomie, die die Banlieues prägen.

Martin Kronauer deutete die Unruhen dagegen geradezu optimistisch als Kampf um Anerkennung, darum, wahrgenommen zu werden und die gleichen Rechte zu bekommen wie alle anderen. In Hinblick auf die ausgebliebene Revolte der deutsch-türkischen Jugendlichen sagte er, bedrohlich für eine demokratische Gesellschaft sei nicht die Tatsache, dass Menschen ihre Bürgerrechte einfordern.

Es droht die "subkulturelle Abkapselung"

Im Gegenteil, das könne "der Demokratie einen notwenigen Schub verleihen. Bedrohlich ist vielmehr, wenn die Ausgeschlossenen auf die Verweigerung von Rechten und sozialer Teilhabe nur noch mit eigenem Rückzug und eigener Verweigerung antworten können." Gleichzeitig widerlegte er das Gerede von der Parallelgesellschaft. Alle empirischen Untersuchungen widersprächen dem Verdacht, dass die Migranten im großen Stil die Integration verweigerten. Werde ihnen aber längerfristig die Zugehörigkeit verwehrt, "droht in der Tat subkulturelle Abkapselung".

Die aktuellen Ereignisse zeigen leider, dass protestierende Jugendliche der Demokratie in Frankreich keinen produktiven ,Schub' verleihen können: Nachdem es am Dienstagabend in den U-Bahnkatakomben der Pariser Gare du Nord zu massiven Ausschreitungen zwischen Polizei und Jugendlichen kam, sagte der Präsidentschaftskandidat Sarkozy, das beweise abermals, dass man noch härter durchgreifen müsse, während seine Kontrahentin Ségolène Royal entgegnete, Sarkozy sei schuld an allem.

Die Zeitung L'Alsace kommentierte die wechselseitigen Vorwürfe mit dem grimmen Satz: "Unsere Politiker werfen sich lieber gegenseitig die Zeitbombe zu, als dass sie versuchen, sie zu entschärfen."

© SZ vom 30. März 2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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