Judenrettung im "Dritten Reich":Die Frau, die Schindlers Liste schrieb

"Er war kein Engel - aber er muss ein Herz aus Gold gehabt haben": Ein Treffen mit Mimi Reinhardt, der Sekretärin, die im Zweiten Weltkrieg Oskar Schindlers lebensrettende Liste getippt hat.

Thorsten Schmitz

Nach einem halben Jahrhundert in Manhattans Upper West Side traf Mimi Reinhardt im vergangenen Herbst einen folgenreichen Entschluss. Das Grübeln und Abwägen hatte endlich ein Ende, aber der Entschluss wog schwer: "Einen alten Baum entwurzeln", sagt sie, "ist nicht leicht." Mimi Reinhardt, 92 Jahre alt und seit fünf Jahren Witwe, zog im Dezember zum letzten Mal in ihrem Leben um. Nach Israel, wo ihr Sohn, die Enkelkinder und die Ur-Enkelkinder leben.

Judenrettung im "Dritten Reich": Mimi Reinhardt

Mimi Reinhardt

(Foto: Foto: Dinu Mendra)

In den letzten Monaten in New York, blickt Reinhardt zurück, "war ich dann doch häufig eher allein gewesen". Ihr einziger Sohn Sascha Weitman sagt: "Ich war froh, als sie sich entschieden hatte, nach Israel zu ziehen." Oft habe ihn die Vorstellung gequält, seiner Mutter stoße etwas zu und er sitze dann sieben Zeitzonen von ihr entfernt in Tel Aviv.

Plötzlich berühmt

Seit vier Wochen wohnt Mimi Reinhardt nun in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im Seniorenwohnheim "Sieben Sterne" in Herzlija Pituach, einem Vorort von Tel Aviv. Die aus hellem Sandstein errichtete Wohnanlage könnte man leicht mit einem Luxus-Resort verwechseln. In der Lobby stehen edle Sofas und ein Flügel, auf einer Tafel werden Spa- und Wellness-Kuren angeboten.

Die Aufzugstür öffnet sich und heraus tritt Mimi Reinhardt. Sie trägt einen zartrosa Pullover, darüber ein beigefarbenes Jackett. Um ihren Hals liegt eine Kette mit weißen Perlen. Sie entschuldigt sich für die Verspätung: "Das Telefon hat den ganzen Vormittag geklingelt." Sie nimmt auf einem der weichen Sofas Platz und streicht ihre Hose glatt. Menschen aus aller Welt rufen sie an, aus Japan, Russland oder Brasilien - und alle wollen sie mit Mimi Reinhardt sprechen. Sie ist zu einer Berühmtheit geworden.

Mimi Reinhardt hat zwei Jahre lang als Sekretärin für Oskar Schindler gearbeitet, den 1974 verstorbenen Retter von 1200 Juden. In all den fünfzig Jahren in New York hat Reinhardt niemandem von ihrem Job bei Schindler erzählt, selbst ihrem Sohn Sascha und ihrer vor sechs Jahren verstorbenen Tochter nur in Andeutungen. "Ich wollte einfach nicht darüber reden. Nach dem Krieg hatte ich das Gefühl, dass ein Teil meines Lebens zu Ende gegangen war. Ich wollte ein neues Leben beginnen, ohne das alte."

Als sich Reinhardt in New York für die Ausreise nach Israel entschieden hatte, kam sie nicht darum herum, von ihrer Zeit mit Schindler zu berichten. Sie kontaktierte die Jewish Agency, eine Organisation, die jüdischen Neueinwanderern bei der "Alija" nach Israel hilft. Eine Mitarbeiterin der Jewish Agency stellte Fragen nach der Vergangenheit Reinhardts - und horchte auf, als Reinhardt ihr berichtete, sie habe zwischen 1944 und 1945 für den sudetendeutschen Fabrikanten Oskar Schindler im KZ Plaszow und später in dessen Rüstungsfabrik in Brünnlitz gearbeitet.

Es war das erste Mal in mehr als fünfzig Jahren, dass Reinhardt einer fremden Person von ihrer Verbindung zu Schindler erzählte. Wenige Tage später, sie saß bereits auf gepackten Koffern, klingelte Reinhardts Telefon, und ein Reporter der New York Times bat um ein Interview. Der Artikel katapultierte Reinhardt ins Rampenlicht.

Auf Seite 2 schildert Mimi Reinhardt ihr letztes Treffen mit Oskar Schindler.

Die Frau, die Schindlers Liste schrieb

Jene Liste, die Steven Spielberg zu seinem oscargekrönten Film "Schindlers Liste" inspiriert und das Leben von 1200 Krakauer Juden gerettet hat, wurde von Mimi Reinhardt getippt. Mit zwei Fingern. "Das einzig Nützliche, was ich je in meinem Leben gelernt habe", sagt Reinhardt und schaut auf ihre Hände, "ist Stenographie." Für die Erstellung der Liste aber war ihre Kurzschrift unbrauchbar. Sie nimmt den Block und den Stift des Reporters und bittet um ein Diktat. In Windeseile hat sie die Sätze in Kurzschrift notiert, ein Lächeln huscht über ihr zartes Gesicht. Kurz vor Hitlers Machtergreifung hatte Reinhardt in ihrer Geburtsstadt Wien Literaturwissenschaft studieren wollen und einen Kurs für Stenographie absolviert, "um bei den Vorlesungen mitschreiben zu können".

Mimi Reinhardt Schindlers Liste Foto: Dinu Mendra

Die Finger, die Schindlers Liste tippten: Mimi Reinhardts Hände

(Foto: Foto: Dinu Mendra)

Zwei Wochen im Inferno

Reinhardt begegnete Oskar Schindler zum ersten Mal im Oktober 1944 im KZ Plaszow. Dorthin waren die Juden aus dem Krakauer Ghetto deportiert worden. Damals suchte Schindler eine Sekretärin für seine Emaillewarenfabrik nahe Plaszow, in der jüdische Zwangsarbeiter erst Töpfe und Pfannen, später dann Rüstungsgüter herstellten. Der Kurs in Stenographie und ihr perfektes Deutsch retteten ihr das Leben, denn Schindler stellte sie ein.

Das Krakauer Ghetto war im März 1943 aufgelöst und die dort lebenden Juden in das KZ Plaszow deportiert worden. Als die Rote Armee gegen Kriegsende vorrückte, konnte Schindler durch die Zahlung von Schmiergeldern an den brutalen Lagerkommandanten Amon Göth verhindern, dass die jüdischen Zwangsarbeiter nach Auschwitz deportiert wurden. Stattdessen wurden sie in seine heute in Tschechien liegende Heimatstadt Brünnlitz gebracht. Dort stellten sie bis Kriegsende Munition her - und blieben so am Leben.

Die Liste, die sich KZ-Kommandant Göth damals eine Million Reichsmark kosten ließ und auf der rund 1200 Namen standen, hatte Mimi Reinhardt getippt. "Erst tippte ich die Namen der Fabrikarbeiter auf die Liste, dann die Namen von ihren Familienangehörigen und ihren Freunden. Zum Schluss meinen Namen und einiger meiner Freunde, dann war die Quote erfüllt", erinnert sich Reinhardt.

Sie habe Schindler vertraut, obwohl er oft nächtelang mit SS-Offizieren getrunken habe. Morgens sei er immer pünktlich im Büro und "immer gut" zu den Juden gewesen. "Wir waren uns nicht sicher, ob Schindler uns retten kann. Aber ich habe an ihn geglaubt, und deshalb wollte ich mit ihm nach Brünnlitz gehen."

Doch durch ein Versehen landete ein Zug mit Schindlers Arbeiterinnen in Auschwitz, Reinhardt war unter ihnen. Die zwei versehentlichen Wochen in Auschwitz beschreibt Reinhardt heute als "Dantes Inferno". Zwei Wochen brauchte Schindler, bis es ihm gelang, seine Arbeiterinnen vor der Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz zu retten. Es ist vermutlich das einzige Mal in der Geschichte des Dritten Reiches, dass ein Zug mit lebenden Jüdinnen Auschwitz verlassen hat.

Reinhardt kann kaum fassen, dass sie dem Tod entronnen ist. Aber sie ist auch traurig. Ihr Mann wurde bei dem Versuch erschossen, aus dem Ghetto von Krakau zu fliehen. Ihren Sohn hatte sie mit gefälschten Dokumenten zusammen mit dessen Großmutter nach Ungarn geschmuggelt. Erst nach dem Krieg fand sie Sascha Weitman wieder, der heute als Soziologieprofessor an der Universität in Tel Aviv lehrt.

Über den Mann, der in Israel als "Gerechter unter den Völkern" geehrt wurde, sagt Reinhardt heute: "Er war kein Engel. Wir wussten, dass er der SS angehörte. Aber er konnte nicht mitansehen, was man uns Juden angetan hat. Es hat ihn angewidert." Noch heute frage sie sich, weshalb es nicht mehr "Menschen wie Schindler" gegeben habe, die ihr Leben riskiert haben, um Juden zu retten.

"Schindler", sagt sie, "muss ein Herz aus Gold gehabt haben." Die Schauspieler, die in Spielbergs Film Schindler und Göth verkörperten, seien "hervorragend besetzt" gewesen, sagt Reinhardt. Nur mit den jüdischen Gefangenen habe sie sich nicht identifizieren können: "Die waren alle zu gut angezogen."

"Die habe alle ich gerettet!"

Mimi Reinhardt fällt es noch schwer zu realisieren, dass sie in Israel nicht nur auf Familienbesuch ist. "Ich hatte nie die Absicht, nach Israel zu ziehen." Zumal: "Ich liebe New York. Amerika ist gut zu den Juden, auch heute noch." In New York, sagt sie, hat ihre Vergangenheit keine Rolle gespielt. In Israel dagegen muss sie sich an die Aufmerksamkeit erst gewöhnen. Sie sagt, sie wolle jetzt keine Interviews mehr geben, sondern ihre Zeit nutzen, um Hebräisch zu lernen.

Ob sie Schindler je wieder gesehen habe? Nach dem Krieg war Reinhardt mit ihrem Sohn ins marokkanische Tanger gezogen, wo "das Leben plötzlich so leicht war" und sie ihren zweiten Ehemann, einen Hoteldirektor, kennengelernt hatte. 1957 erhielt die Familie ein Visum für die USA und zog nach New York, wo Reinhardt ein halbes Jahrhundert bleiben sollte.

Ein paar Jahre später flog Mimi Reinhardt nach Wien, ihre Tante besuchen. Sie spazierten durch die Innenstadt, es war ein warmer Tag, sie passierten gerade ein Straßencafé, als plötzlich ein Mann ihren früheren Namen rief, Carmen Weitman.

"Es war Schindler! Er hatte mich wiedererkannt. Er saß in dem Café mit anderen Juden, die für ihn gearbeitet hatten. Meine Tante fragte mich irritiert, woher ich diesen Mann denn kenne."

Für den Abend verabredete sich Mimi Reinhardt mit Schindler und den anderen. Sie wurde mit dem Taxi abgeholt.

Als Reinhardt in das Auto stieg, umarmte Schindler sie und eine andere ehemalige Gefangene und sagte dem Fahrer: "Das sind meine Juden. Die habe alle ich gerettet!"

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