Jubiläum:Aus Gegenwart geschmiedet

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"Das Undenkbare erlaubt das Aussetzen der Zeit..." - der französische Filmemacher Claude Lanzmann. (Foto: Regina Schmeken)

Regisseur Claude Lanzmann, der Schöpfer von "Shoah", wird 90 Jahre alt.

Von Fritz Göttler

"Ich habe nicht gespürt, wie die Zeit verging", schrieb Claude Lanzmann 1990. Gemeint war die Zeit seit der Uraufführung seines großen Werks "Shoah" auf der Berlinale im Jahr 1985, die er damit verbrachte, den Film in der ganzen Welt vorzustellen und seine Besonderheit, seine Andersheit zu beschwören, das "große Chaos der Trauer" zu bewältigen, "das ,Shoah' geschaffen hat und das für immer auf mir lasten wird".

Es bezog sich aber auch auf die zwölf Jahre, die Lanzmann an dem Film gearbeitet hatte. Er hat Überlebende der Konzentrationslager in aller Welt aufgesucht, sie zum Sich-Erinnern gebracht und von ihren Erfahrungen berichten lassen, hat sich immer wieder, wenn das Geld aufgebraucht war, um neue Finanzierung kümmern müssen. Hat schließlich Hunderte Stunden Material gesammelt und daraus ein neunstündiges Werk montiert. Keine Dokumentation wollte er schaffen, sondern, "gehorsam den Gesetzen der Schöpfung", ein Kunstwerk, in dem Geschichte sich kondensiert und die Zeit zum Stillstand kommt: "Eines Tages hat sie, unter mir nicht bekannten Umständen, aufgehört zu vergehen. Für mich hat die Zeit nie aufgehört zu vergehen."

"Shoah" ist ein Jahrhundertwerk, Lanzmann sagt: "ein Urereignis". Er kennt da keine falsche Bescheidenheit, und er kannte keine Schonung den Leuten vor seiner Kamera gegenüber, was im Film eine unerhörte Mischung aus Schmerzlichkeit und Unerbittlichkeit ergibt. Das Leben hat auch Lanzmann traktiert von Jugend an. Er war mit seiner jüdischen Familie unter der Nazi-Besetzung Frankreichs immer von Deportation und Ermordung bedroht, hat sich früh den Kommunisten angeschlossen und der Résistance. Ein Kraftmensch, ein Tatmensch, aber auch ein Intellektueller. Nach dem Krieg arbeitete er bei den berühmten Temps Modernes, zuletzt auch als Herausgeber, und für andere Zeitschriften. Er kam herum in Paris und hat eine intensive Beziehung zu Sartre gehabt und zu Simone de Beauvoir, die drei pflegten eine sehr, sehr kuriose Ménage-à- trois. Davon und von anderen Liebesgeschichten erzählt Lanzmann in seinem Buch "Der patagonische Hase", und soeben kam der Sammelband "Das Grab des göttlichen Tauchers" heraus, mit weiteren Geschichten des Reporters Lanzmann.

Wenn man ihn interviewt, reagiert Lanzmann auf Fragen zur Ästhetik und zu seiner Vision überhaupt nicht. Aber sein Gedächtnis ist einschüchternd, er kann jeden Satz aus seinen Filmen wörtlich zitieren. Die Filme von Lanzmann, "Shoah" inklusive, sind allemal vitale Werke, es geht ums Leben, ums Überleben. Sie stecken voller Widerstandskraft, auch voller Kampfesmut - in "Tsahal" filmte er die Jugend Israels im Militärdienst und hat sich scharfe Kritik eingehandelt. In "Der letzte der Ungerechten" begegnet er Benjamin Murmelstein, dem letzten Judenältesten im Ghetto Theresienstadt, der immer wieder schlimme Deals mit den Nazis aushandeln musste - der Film ist dieses Jahr in die Kinos gekommen und auf DVD erschienen.

Der Holocaust ist nicht zur Darstellung zu bringen, nicht abbildbar, sagt Lanzmann, und er hat vehement alle verdammt, die das dennoch versuchten - auch Steven Spielberg und dessen Film "Schindlers Liste". Darstellung bedeutet falsche Distanz, aber in Lanzmanns Filmen wird immer auch über die Schwierigkeiten des Erinnerns reflektiert. "Wenn ,Shoah' nur aus Gegenwart geschmiedet wurde, wenn die Vergangenheit sich darin aufzulösen scheint, dann deshalb, weil die Ordnung, die dem Film zugrunde liegt und die aus ihm spricht, dem Undenkbaren angehört . . . Das Undenkbare erlaubt das Aussetzen der Zeit . . ."

An diesem Freitag wird Claude Lanzmann neunzig Jahre alt.

© SZ vom 27.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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