Jonathan Littell: "Die Wohlgesinnten":Eine Geographie des Grauens

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Jonathan Littell weckt mit seinem Roman "Die Wohlgesinnten" heftige Gefühle: Abscheu, Ekel, Mitleid. Aus Orten werden Schauplätze des deutschen Massenmords.

Kurt Kister

Ein paar Kilometer östlich meiner alten Heimatstadt liegt ein Schießplatz. Zwei große Kugelfänge aus Beton, links und rechts begrenzt durch zwei Erdwälle. In der Mitte verläuft eine weitere Erdaufschüttung, so dass zwei Schießbahnen entstanden sind.

Adolf Hitler und Heinrich Himmler, Berghof, 1943: Jonathan Littell griff bei der Recherche für sein Buch auf historische Quellen zurück. (Foto: Foto: oH)

Die Enden der beiden Bahnen bildet je eine höhlenartige Öffnung in der Betonmauer. In jeden dieser Kugelfänge passen nebeneinander fünf große Schießscheiben. Oder fünf Menschen.

Als Kinder haben wir manchmal am Ami-Schießplatz gespielt, Kugeln gesucht, die man da aus der Erde graben konnte. Natürlich waren das keine richtigen Kugeln, sondern meistens irgendwie platt gequetschte, eigentlich spitze Geschosse, abgefeuert aus Gewehren oder Maschinengewehren.

Wir nannten die Anlage Ami-Schießplatz, weil sie früher mal, kurz nach dem Krieg, von den Amerikanern zur Schießausbildung benutzt wurde. Bei den Erwachsenen hieß der Ort nur "der Schießplatz" und manchmal auch "Schießstätte".

Daheim erzählten wir nichts von diesen Exkursionen, weil in dem alten Haus am Schießplatz Obdachlose und sogenannte Problemfamilien einquartiert worden waren. Für uns war der Schießplatz nur ein interessanter Ort, an dem wir uns manchmal ein wenig fürchteten, weil es da so viele Hunde gab. Hin und wieder warf einer der zerzausten Männer aus dem Haus auch eine Bierflasche nach uns.

Abscheu, Ekel, Bestürzung

Dieser Schießplatz aber ist mehr als ein Ort. Er ist ein Schauplatz. Ein Schauplatz des deutschen Massenmordes. Er liegt keine zwei Kilometer entfernt vom Zaun des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau. Zunächst, also vor dem September 1941, schossen die in der nahen Kaserne stationierten SS-Männer dort auf Scheiben. Zwischen dem Herbst 1941 und dem Sommer 1942 wurden dann sowjetische Kriegsgefangene, zumeist Offiziere, im Betonkugelfang umgebracht.

Wie viele es insgesamt waren, weiß man nicht, weil, anders als sonst im KZ-System, über diese Morde nicht Buch geführt wurde. Es waren wohl mindestens 1000, vielleicht bis zu 4000. Sie wurden in Fünfergruppen erschossen, 30 bis 50 am Tag, und dann im Krematorium des KZ verbrannt.

Bei wissenschaftlichen Grabungen im Jahr 2001 wurden auf der Schießbahn 165 Schädelfragmente gefunden. Sie waren bei den Exekutionen durch die Geschosse aus den Köpfen der Getöteten gerissen worden. Vielleicht hatten wir als Kinder das eine oder andere dieser Geschosse gefunden. Wir dachten, die Kugeln stammten von den Amis.

Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" wird von etlichen seiner bisher nicht vielen Leser in Deutschland gern danach beurteilt, ob er "etwas Neues" zur Jahrhundertdebatte um Ursachen und Folgen des deutschen Massenmordes beizutragen habe. Nein, hat er nicht. Jedenfalls nichts Neues im Sinne des Sachbuch-Neuen. Wer sich vor Littell für Einsatzgruppen, den SD, das Reichssicherheitshauptamt und die ordentliche Planung der Vernichtung interessiert hat, erfährt nichts Neues.

Littell aber erzeugt Gefühle - Abscheu, Ekel, Bestürzung, schaudernde Spannung, Mitleid. Dies hat einerseits mit den Dialogen, Monologen, Reflektionen und, ja, auch dem Geschwätz zu tun, in die Littell seinen Obersturmbannführer Aue verwickelt. (Pikant ist, dass mancher Rezensent, manche Rezensentin, die selbst das mehr oder weniger gehobene Geschwätz in ihren Texten pflegen, genau diese Kunst dem Autor Littell vorwerfen.)

Monströse Charakterzüge

Der Roman aber ist auch eine Art beklemmende Reiseerzählung. Er ist eine im wahren Sinne des Wortes Tour de Force von Schauplatz zu Schauplatz des deutschen Massenmordes. Was vorher, bevor die Deutschen mit Hakenkreuz und Totenkopf kamen, nur Orte waren, wurden durch sie Schauplätze. Nicht im Buch, aber im wirklichen Leben: Die alte Munitionsfabrik am Rande der Kleinstadt Dachau wurde Konzentrationslager, Schauplatz des zehntausendfachen Todes.

Auf einem Acker, der zum Dorf Hebertshausen gehörte, entstand der Schießplatz, Schädelstätte für alle Zukunft. In Littells Roman durchquert der nachmalige Obersturmbannführer Dr. Max Aue, Funktionsträger im Sicherheitsdienst (SD) der SS, in Schaftstiefeln sein Europa der Schauplätze, den Kontinent des Holocaust: Lemberg, Kiew, Stalingrad und Berlin; Paris, Jalta, Posen und Charkow; die Konzentrationslager Auschwitz, Oranienburg und Dora. Übrigens: Wer sich heute, und sei es wegen der Lektüre der "Wohlgesinnten", wieder einmal mit diesem deutschen Europa beschäftigt, das sich für kurze Zeit vom Atlantik bis zur Wolga erstreckte, der mag besser verstehen, warum es bis heute in vielen Regionen östlich der Oder Vorbehalte gegen eine von Berlin dominierte EU gibt.

In der Debatte über Littells Buch wird oft die Frage gestellt, ob so einer, so eine Figur wie der ubiquitäre Aue, ein hochgebildeter Außendienstler der multiplen Tötung, überhaupt "plausibel" sein könne. Littell entwerfe, lautet der Vorwurf, eine Kunstfigur, dieser Aue sei nicht mehr als eine Menschteufel gewordene Projektionspuppe für das imaginierte Böse schlechthin.

Nun ja, einerseits haben Schriftsteller ein Vorrecht auf Kunstfiguren jeder Art. Zum anderen, was soll die eher germanistische Frage nach der Plausibilität? War es denn plausibel, dass SS-Einsatzgruppen, Polizeireservisten und Wehrmachtsangehörige, also ein Querschnitt Deutscher unter Waffen, in der Schlucht von Babi Yar im September 1941 Zehntausende umgebracht haben, Männer, Frauen, Kinder? War es plausibel, dass jene Alltags-Mörder vom Dachauer Schießstand im Frühling 1942 nach getaner Arbeit in denselben Wirtschaften saßen, in denen wir Gymnasiasten dreißig Jahre später Weißbier tranken?

Der möglichst präzise Umgang mit Orten und Schauplätzen gehört zum Handwerkszeug aller, die historische Romane im weitesten Sinne schreiben. Die in diesen Zeiten beliebten Templer-Romane zum Beispiel sind voller detailreicher, ausgedachter Schilderungen des Lebens auf dem Krak de Chevaliers, der Vorgänge beim Fall von Akkon oder der Verhältnisse auf französischen Templerburgen im 14. Jahrhundert. Von all diesen Dingen hat die Leserschaft zwar nur vage Kenntnis, dafür aber das mit jedem gelesenen Taschenbuch wachsende Gefühl, eigentlich wisse man schon, wie Templer lebten, dachten und handelten.

Templer aber sind ganz weit weg. Max Aue dagegen, Jahrgang 1913, könnte vielen seiner deutschen Leser ein alter Vater oder ein junger Großvater gewesen sein. Gar nicht weit weg, sondern sehr nah. Man glaubt zu wissen, wie die Menschen der beiden Nazi-Generationen waren. Man braucht - Oh, wie gern der durchschnittliche Rezensent die Frage stellt: Brauchen wir dieses Buch? - keinen relativ jungen Amerikaner, der in Frankreich gelebt hat, um sich den Großvater erklären zu lassen. Vielleicht resultiert gerade aus der Nähe deutscher Leser zum Protagonisten, zum Sujet und zu den Schauplätzen des Buches die zum Teil so heftige Ablehnung der monströsen Charakterzüge Aues und der drastischen Sprache Littells.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum es keine vernünftige Unterscheidung zwischen Krieg und Massenmord gibt.

Ja, die Menschen in diesem Buch, soweit sie nicht als Masse, zumindest als Menge, vorkommen, als mordende oder gemordete, sind oft "unrealistisch". Sie tragen zu viel oder zu Seltsames in sich. Sie sind, manchmal mit sehr groben Strichen gezeichnete, Symbolfiguren. Aues Beschützer Dr. Mandelbrod, ein adipöser Koloss in einem Hightech-Rollstuhl, erinnert an Professor Xavier aus dem amerikanischen Superhelden-Comic X-Men.

Holocaust
:Täter und Opfer des KZ Auschwitz

Täter und Opfer des KZ Auschwitz

Andere Figuren bringen etwas Revuehaftes, Plumpes in die Handlung wie zum Beispiel die beiden Polizisten Clemens und Weser. Sie verdächtigen Aue des Doppelmordes an seinen Eltern (was für ein absurder Vorwurf gegenüber einem Massenmörder) und tauchen immer wieder unverhofft auf wie das Gespenst im Kasperletheater. Der SS-Offizier Aue wiederum ist die Kreatur eines Autors, der sehr ausgiebig Celine, de Sade, Baudelaire sowie ihresgleichen gelesen hat und daran keinen Zweifel lassen kann.

Protokollhafte Reportage des Massenmords

Littell ist auch ein Bildungshuber, der an den historisch richtigen Stellen Marionetten einsetzt, die keine andere Funktion haben als zwischen dem wissenden Autor und den Cognoscenti unter der Leserschaft überlegene Gemeinsamkeit herzustellen: Ernst Jünger zum Beispiel hat im Kaukasus einen kurzen Auftritt; Aue sieht ihn am Bahnhof. Obwohl in diesem dicken Buch dauernd alle möglichen Leute scheinbar endlos miteinander reden, spricht Aue nicht mit Jünger. Aber gerade gebildete Franzosen, Littells erstes Zielpublikum, wissen wohl, dass der feingeistige Besatzungsoffizier Hauptmann Jünger 1942 von General Stülpnagel aus Paris als Beobachter nach Russland geschickt worden war, um kaukasische Aufzeichnungen anzufertigen.

Im Gegensatz zu den Personen erwecken die Schauplätze dieses Romans den Eindruck großer, manchmal schneidend scharfer Realitätsnähe. Dies trifft zu für das Bekannte, die schaurig berühmten Orte der Endlösung: Babi Yar etwa, wo Aue an den "Ausmordungen" - ein Wort eben jenes Ernst Jüngers - teilnimmt und das Unfassbare widerwärtig genau schildert. Auch der Platz selbst, die Schlucht, die Massengräber, die Erde werden penibel beschrieben. Zum Schauplatz im Kopf des Lesers aber, zur Geographie des Grauens ("lasciate ogni speranza"), wird das Ganze durch Littells protokollhafte Reportage des Massenmords, der stattfindet mit Gewehren, Maschinenwaffen und Pistolen für den Genickschuss. Der sich im Buch ereignet, wo ihn sich der Leser vorstellt, vorstellen muss, so wie er sich auch in Hebertshausen ereignet hat, in Wirklichkeit.

Aber dann gibt es auch die vielen "kleinen" Schauplätze. Einmal ist Aue dabei, als ein Dorf bei Charkow nach Partisanen "durchkämmt" wird. Man schießt, erst aus Versehen, dann mit Absicht. Eine Frau stirbt im Regen, ein SS-Offizier wird von einem Kameraden erschossen. Ein Birkenwald, eine vermatschte Lehmstraße, ein namenloses Dorf, in dem an einem Nachmittag zwei Menschen sterben, einfach so. Der Krieg bestand aus Charkow, dem Kaukasus und Stalingrad, aus El Alamein, Caen und Monte Cassino. Das weiß man, das hat man gehört (die Jüngeren kennen es aus Computerspielen). In Wirklichkeit aber bestand der Krieg aus Abertausenden solcher Dörfer, in denen Leute einfach so umgebracht wurden.

Ja, es gab die Schlachten - jene, die in den Geschichtsbüchern stehen. Aber vor allem gab es das Schlachten, dessen zu viele Schauplätze schneller vergessen werden, vielleicht nicht einmal für länger benannt werden können. Oft wusste man nur, dass der Papa am Ladoga-See gefallen war. Nicht einmal in den Familien der Getöteten war der eigentliche Ort, der Schauplatz bekannt - geschweige denn, was der Papa bis zu seinem Tod am Ladoga-See gemacht hatte. Zwei Generationen später hört sich so ein Teil der Familiengeschichte ohnehin wie aus einem Roman an. So einen Roman hat Jonathan Littell geschrieben.

Leider kann die Vielfalt des Widerwärtigen und des Ekligen in diesem Buch auch den Blick verstellen auf eine der großen Wahrheiten, das es bereithält: Es gibt keine sinnvolle Unterscheidung von Krieg und Massenmord; ohne die Frontsoldaten wäre der millionenfache Etappenmord nicht möglich gewesen. Als Offizier des SS-Sonderkommandos 4a bewegt sich Aue knapp hinter den vorstürmenden Panzerdivisionen.

Der Schauplatz ist wieder zum Ort geworden

Im Schutz, im Angesicht und manchmal unter Mithilfe der Wehrmachtssoldaten töten die Einsatzgruppen. Dabei verschwimmen die Schauplätze und ihre Bedeutungen: Charkow ist zunächst ein militärisches Ziel, dann der Schauplatz einer Schlacht. Anschließend wird es zu einem der vielen Zentren der Ausmordungen von Juden, Kommunisten, Partisanen und anderen als schädlich eingestuften Menschen.

Dann wird es wieder von den Russen eingenommen und anschließend noch einmal von der Waffen-SS zurückerobert. Gewiss, man wusste auch schon vor Littell, dass dies ein Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg war. Die Figur des Dr. Aue aber macht es noch einmal und wiederum beklemmend deutlich: Im Laufe seiner Karriere bis zum Obersturmbannführer wechselt er zwischen dem Massenmord in Kiew, dem Genesungsurlaub auf der Krim, dem Kriegseinsatz in Stalingrad und dem Schreibtisch in Berlin, ganz in der Nähe seiner Kameraden Eichmann und Kaltenbrunner. Doch, so etwas gab es. Es ist plausibel.

Auch Schauplätze kann man vergessen. Vielleicht nicht jene, deren Monströsität das menschliche Maß sprengt, nicht Auschwitz, nicht Treblinka und Dachau und vielleicht nicht einmal Verdun und Stalingrad. Aber wenn so etwas nur lange genug her ist - und dieses "lange genug her" ist sicher sehr subjektiv - , dann wird aus so einem Schauplatz wieder einfach nur ein Ort.

Jeden Tag überquere ich bei der Fahrt ins Büro den Sendlinger Berg vorbei an der Sendlinger Kirche. Vor 300 Jahren, im Dezember 1705, wurden rund um diesen Kirchberg von österreichischen Soldaten etwa 1000 aufständische Bauern abgeschlachtet, die meisten von ihnen zu Tode bajonettiert. Es gibt Gedenksteine und eine Wandmalerei an der Kirche. Ansonsten ist die Sendlinger Mordweihnacht heute Teil der Münchner Folklore. Der Schauplatz ist wieder zum Ort geworden.

© SZ vom 20.2.2008/kur - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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