John Irving zum 70.:Meistgeliebter Ringkämpfer der Welt

Überschießende Phantasie gepaart mit lebensnahem Realitätssinn: US-Erfolgsautor John Irving, der für "Gottes Werk und Teufels Beitrag" einst den Oscar für das beste Drehbuch bekam, wird an diesem Freitag 70 Jahre alt. Und noch immer erzählen seine äußerst populären Bücher vom Ringen - und vom letzten Satz.

Bernd Graff

Manchmal muss man fragen, ob man in John Irving nicht viel mehr den Ringkämpfer sehen muss als den Autor. Denn das, was Irving mit Wörtern, Absätzen, Episoden und Geschichten macht, ist Ringen. Nicht: "ringen um" all das, sondern "ringen mit" all dem. Irving ist ein Matten-Literat.

John Irving

Der Matten-Literat: Auch der Film "John Irving und wie er die Welt sieht" erzählt vom Ringen des US-Autors um Worte, Absätze und Geschichten.

(Foto: dpa)

Tatsächlich war er Ringer, "ein langweiliger Ringer", wie er sagt, aber einer, der es in die National Wrestling Hall of Fame in Stillwater, Oklahoma, gebracht hat. Nimmt man also an, John Irving, der überaus erfolgreiche Autor von zwölf, bald 13 Romanen, die er seit 1968 verfasst hat, sei der Sportsmann des belletristischen Ringens, einer, der handgreiflich werden kann, aber einer, dem es um den fairen Kampf, nicht um das Gewinnen geht, dann versteht man dessen Bücher gleich besser.

Denn Ringen heißt, selber Balance zu halten, um den anderen oder in Irvings Fall eine Geschichte aus der Balance bringen zu können. Und so verfährt der in 35 Sprachen übersetzte Amerikaner mit Wörtern, Absätzen, Episoden und Märchen. Er versucht, Sprache und Ideen durch zulässige Griffe auf die Schultern zu bringen. Und Irving ist ein phantastischer Auf-den-Rückenbringer - aus dem Stand wie auf dem Boden.

Der moderne Charles Dickens

Denn der "moderne Charles Dickens", wie Irving von der New York Times einmal genannt wurde, beherrscht zuverlässig zwei Griffe des Erzählens: Er hat einen äußerst lebensnahen Realitätssinn und eine überschießende Phantasie. Irvings Ringer-Kunst ist es, beide - und damit sich als Autor - in der Balance zu halten. So wird das Überschießende nie wahnhaft und das Realistische nie dokumentarisch.

John Irving hat seit seinem ersten Welterfolg "The World According to Garp" aus dem Jahr 1978 eigentlich immer an demselben Buch weitergeschrieben. Im Mai erscheint "In One Person", angeblich wird hier aus der Ich-Perspektive berichtet, das wäre erzähltechnisch dann eine große Ausnahme. Auch sonst stimmt das Fortschreiben nicht inhaltlich, aber es stimmt thematisch und motivisch. Irving rekombiniert immer wieder dieselben Orte, Lebensumstände und Haltungen. Es ist wie im Ringer-Training der Erzählkombinatorik.

Wiederkehrende Motive sind seine Heimat Neuengland, Wien - die Stadt seines Studiums -, das Leben und Leiden von Schriftstellern, Ringern, Prostituierten. Dann nahezu alle Formen der Nichthetero-Sexualität und für illegitim erklärten Liebe, tödliche Unfälle - und Bären. Ein fixes Tableau aus Personen und Konstellationen, möchte man meinen, und doch füllt Irving den Raum dazwischen immer neu mit seinem realistisch geerdeten Bild- und Erzählüberschwang, die seine zumeist ausufernd dicken Bücher so kurzweilig machen.

John Irving behauptet gerne und oft, dass er seine Bücher vom letzten Satz weg zurück zum Anfang schreibt. Natürlich schreibt er mit der Hand, er füllt Tonnen von linierten Notizblöcken. Aber den letzten Satz lässt er von Anbeginn an immer unverändert. Was ihn dann beschäftigt, auch das hat er erklärt, sind nicht so sehr die Inhalte, nicht so sehr die Belebung von Charakteren - es sind die Arrangements der Motive, die er auf der imaginären "Road-Map" für ein Buch immer wieder neu ordnet. Es ist, als ob ein Ringer die lange geübten Griffe immer wieder neu ansetzt, um zum Schultersieg zu kommen. "Nein", sagt er, "meine Romanfiguren sind mir nie fremd. Ich habe sie ja erschaffen. Ich rechne mit ihnen, ich kalkuliere alles. Ich revidiere ständig. Aber ich plane die Überraschungen. Ich bin nie überrascht. Hoffentlich ist es der Leser."

Irving, der 1999 den Oscar für das Drehbuch zu "The Cider House Rules" (Gottes Werk und Teufels Beitrag) bekommen hat, ist kein feiner Ziselierer des Amerikanischen, er ist kein Magier der Sprache. Er ist viel mehr ein aufmerksamer Reporter des nahezu Unmöglichen und der Pointen des Lebens.

Die Kinderfurcht aus "Witwe für ein Jahr" hat folgende Ursache: Ruthie ängstigt sich vor "dem Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen." Das versteht man überall auf der Welt. Irving verkauft in Deutschland mehr Bücher als in den USA und Kanada zusammen. In Frankreich so viele wie in den USA. Die "Witwe für ein Jahr" verkaufte sich in Holland genau so oft wie in den Vereinigten Staaten. Mehr als die Hälfte seines Einkommens erwirtschaftet Irving aus dem Erlös seiner übersetzten Bücher.

Dass er und der amerikanische Popsänger Lou Reed, genannt der Meister, beide heute siebzig Jahre alt werden - das ist ein so schön schräger Zufall, dass er in einem von John Irvings Büchern stehen könnte.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: