John Glassco in Paris:Die wilden Jahre

Abenteuer eines jungen Mannes im Paris der 20er Jahre: John Glasscos Autobiographie "Die verrückten Jahre" schwelgt in Unbeschwertheit, körperlichen Freuden bei schwankender sexueller Orientierung und geistreichen Gesprächen.

Ina Hartwig

Wer Bonmots, süffige Personenbeschreibungen und höheren Klatsch schätzt, wer sich zudem zum cognacumflorten Glanz des Paris der zwanziger Jahre hingezogen fühlt, der darf sich John Glasscos Erinnerungsbuch "Die verrückten Jahre" nicht entgehen lassen. Von dem Kanadier John Glassco (1909-1981) weiß man nicht viel mehr, als dass er im hormontreibenden Alter von neunzehn Jahren in Begleitung seines Busenfreundes Graeme Taylor seine Heimatstadt Montreal Richtung Paris verlassen hat, wo er zwei aufregende, von der Suche nach Lebensrausch dominierte, eben "verrückte" Jahre verlebt.

John Glassco in Paris: Das Foto des küssenden Pärchens von Robert Doisneau prägte wie kein anderes das Bild von Paris als Stadt der Liebe. Auch John Glassco erlebte hier seine ersten Amouren.

Das Foto des küssenden Pärchens von Robert Doisneau prägte wie kein anderes das Bild von Paris als Stadt der Liebe. Auch John Glassco erlebte hier seine ersten Amouren.  

Reichlich Alkohol und gutes Essen

Unbeschwertheit und Genuss, jegliche körperliche Freuden bei schwankender sexueller Orientierung sowie geistreiche Gespräche, reichlich Alkohol und gutes Essen sind oberstes Gebot. 1929 ist die Party plötzlich vorbei, der "Börsenkrach" macht dem ohnehin ausgelaugten Hedonismus ein Ende; zu allem Unglück wird Tuberkulose bei Glassco diagnostiziert. Die Heimreise ist unvermeidlich.

Als Erzählrahmen - der aber Fake ist, wie Louis Begley in seinem sehr geneigten Vorwort erläutert - wird ein Krankenhaus in Montreal gewählt, wo Glassco sich seiner Abenteuer in Paris, Luxemburg und Nizza erinnert. In Wahrheit hat er seine Autobiographie sehr viel später geschrieben, was die Belesenheit des Erzählers erklärt; das Original erschien 1970 als "Memoirs of Montparnasse".

Glassco, der sich in seinem Bericht als surrealistischer Dichter ausgibt, ohne sich dabei glücklicherweise allzu ernst zu nehmen, hat die Tuberkulose also offenkundig gut überstanden. Als Schriftsteller sollte er aber nicht weiter bekannt werden, mit Ausnahme eben seiner Paris-Memoiren, die als wichtiges Zeugnis über das Leben der Expatriaten in der damals wie heute bei wohlhabenden Amerikanern beliebten französischen Hauptstadt gelten.

Rosiger Teint, kluge Augen

Die Cafés und Nachtclubs, bevölkert von Künstlern, Huren, Geistesaristokraten und Damen im Anzug, werden liebevollst geschildert. Glassco ist ein Meister darin, in wenigen Strichen eine Person zu charakterisieren; etwa die Patronne des Sélect: "Madame hatte einen rosigen Teint, kluge Augen und einen Busen wie ein Regal; sie trug schwarze fingerlose Handschuhe, die ihre Hände wärmten, beim Zählen von Francs und Centimes aber nicht hinderten".

Die Klischees bestätigen

Rasch findet der junge Mann aus gutem Hause Anschluss an die angesagten Kreise; von André Breton bis Peggy Guggenheim kommen alle vor; das kommentierte Personenregister hilft beim Aufdröseln der Decknamen. Die kühne Behauptung des Henry-James-Biographen Leon Edel, Glasscos Buch sei "frischer" und "menschlicher" als Ernest Hemingways "Paris, ein Fest fürs Leben", ist jedoch Unfug. An Hemingway, der bei Glassco einen köstlichen Auftritt als viriler Trottel hinlegt, reicht der Kanadier literarisch nicht im entferntesten heran. Glasscos Buch zeugt zwar von großer Beobachtungsgabe, doch fehlt ihm psychologische Plausibilität und Tiefe. So wirkt ausgerechnet das Motiv erotischer Abhängigkeit von der verruchten Amerikanerin Mrs. Quayle, als Höhepunkt der Ekstase gedacht, einfach nur aufgesetzt.

Exquisit dagegen die gesellschaftlichen Abenteuer des jungen Mannes: Wie die heimliche Königin von Paris Gertrude Stein ihn abblitzen lässt, das sitzt. Schön auch, wie James Joyce, schwer angetrunken, im Halbdunkel über andere Schriftsteller lästert. Sagen wir es so: Am besten ist John Glassco, wenn er das Klischee bestätigt.

JOHN GLASSCO: Die verrückten Jahre. Abenteuer eines jungen Mannes in Paris. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Carl Hanser Verlag, München 2010. 336 Seiten, 21,50 Euro.

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