John Cage zum 100.:Für Überrumpelungen immer gut

Er gilt als einer der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, dabei war John Cage kein Kompositionstechniker, sondern vielmehr ein Utopist des Loslassens. An seinem 100. Geburtstag wird der 1992 gestorbene Schönberg-Schüler und verstörende Avantgardist wie ein Guru verehrt.

Wolfgang Schreiber

John Cage, den Künstler und Weisheitslehrer, leibhaftig anzutreffen in den Musikstädten und Avantgardezirkeln Europas war in den Siebziger- und Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts keine Kunst. Der Kalifornier ging gern auf Reisen, er gab sich kultiviert, freundlich, ließ mit sich reden, konnte einen dabei sehr ernst anschauen oder seinen scharfen Intellekt verstecken hinter einem entwaffnend offenen, fast kindhaften Lachen.

John Cage

John Cage im Jahr 1982: Jungen Komponisten, die ihn fragten, was er ihnen empfehlen würde, habe der Meister gern mystisch geantwortet: Meister Eckhart lesen!

(Foto: dpa)

Cage wurde von Veranstaltern, Galeristen, befreundeten Musikern oft gebeten, nach dem Rechten zu sehen, wenn Stücke von ihm aufgeführt wurden: in Köln, Bonn oder Venedig, in München oder Bremen, in Bologna, Stuttgart oder Metz war er zugegen. Zeigte sich als Akteur in eigener Sache, als der begnadete Vorleser eigener Texte mit leiser, sanft melodisierender Stimme. Und doch war da immer auch eine Distanz.

Die in Freiburg lehrende chinesische Pianistin Pi-hsien Chen, die neulich in der Berliner Akademie der Künste Cages furchtbar knifflige "Music of Changes" spielte, erinnert sich an die Treffen mit ihm: "Was mich früher sehr irritierte, war, dass mir Cage immer wie ein Fremder begegnete, so liebenswürdig und freundlich war er zu jedem gleich. Gleichmütig. Frei."

Viele Gesichter der Kreativität hatte der Musiker und Komponist, der Dichter und Zeichner, Meister der zenbuddhistischen Leere, Stille, der an der Oberfläche entlang und dabei in die Tiefe denken konnte. Mancher professionelle Beobachter sah in Cage hauptsächlich den Verunsicherer, den pfiffigen Schelm der Avantgarde, der schon bei seinem ersten Auftauchen in Europa Mitte der Fünfziger alle strukturalistischen Gewissheiten der Garde um Nono, Boulez und Stockhausen erschütterte - mit seiner vom Zufall komponierten Musik, diesen scheinbar simplen Botschaften der Absichtslosigkeit, des Abschieds vom Ego, mit seinem Credo von 1981: "I welcome whatever happens next" - Ich begrüße alles, was mir gerade neu begegnet.

Aber ganz so einfach war Cage nicht zu haben, wenn er bei Konzerten und Aktionen auftrat. Cage-Missverständnisse hatten meistens zu tun mit falschen Erwartungen der Hörer - nämlich des Hörens.

Friedfertigkeit stand auf seinem Gesicht geschrieben

Das radikale Null-Nummer-Stück von 1952, als "4'33" legendär geworden, ist nur das berühmteste Beispiel: Emanzipation der Geräusche der Umgebung, beim Verzicht auf Musik. Unruhe, Enttäuschung, Wut als Reaktion des Düpiertseins waren früher die Antwort. Cage meinte: Störe einen dabei die Bezeichnung "Musik", könne auch eine andere genommen werden . . .

Er war für Überrumpelungen immer gut, nur blieben sie gewaltlos. Friedfertigkeit stand auf seinem Gesicht geschrieben. Die Erinnerung ist wach an Cages Erscheinen beim Recherche-Musikfestival im französischen Metz in den frühen Achtzigern. Es hatte dort eines Abends geheißen: Cage will morgen Mittag im Restaurant de la Gare eine Performance machen. Keiner wusste, was daraus werden könnte.

Als der Nebenraum des Bahnhofsrestaurants schon überfüllt war mit Musikern, Musikleuten, Neugierigen, geschah lange nichts, man wartete und wusste nicht, auf was. Man sah in dem Raum keine "Ausführenden", keinerlei Vorsorge für ein Erklingen oder etwas Geräuschhaftes, keinen Komponisten, man hörte nur Stimmengewirr.

Ein spiritueller Kraftakt

Plötzlich Cages grauer Haarschopf in der Menge, der Mann machte sich zu schaffen an einem mächtigen Tisch: Er begann, den Tisch mit seinen Armen bedächtig durch die Menschenmenge im Raum zu schieben, Cage schob und schob, er zog wie mit einem dicken Stift unsichtbare Linien in den Raum. Kein Entkommen: ein Ritual perfekter Sinnfreiheit, zwanglos, stumm, konzentriert, dabei feierlich, fast inbrünstig. Die Leute wichen rechts und links ehrerbietig zurück, um dem Mann bei seiner Arbeit Platz zu machen, sie drängten hin und her, beobachteten, grübelten, tuschelten, lachten, staunten: Cage teilte den Raum wie der Prophet die Fluten, er teilte die Versammelten in zwei Lager mit der mobilen Installation eines mobilen Geistes. Ein spiritueller Kraftakt.

"Die freigelassene Musik" heißt der gerade erschienene Band mit spekulativen Texten über John Cage (Klever Verlag Wien), die der Musikpublizist Heinz-Klaus Metzger aus unzähligen Begegnungen mit Cage und seiner Musik des Zufalls herausdestilliert hatte.

"Die Musik ist los"

Und neulich stellte die Berliner Staatsoper in ihrer Werkstatt eine Reihe von Cage-Séancen unter das von Cage-Exeget Daniel Charles stammende Motto: "Die Musik ist los". Auf zweierlei Art ist sie das: Sie wird befreit von ihren Traditionen und Konventionen, sie befreit das Hören aus den eingefahrenen Bahnen.

Wohin das führt, zeigt die aktuelle Aufnahme des russischen Pianisten Alexei Lubimov mit der Gesangsstimme von Natalia Pschenitschnikova (ECM). Wer in ihre Klänge eintaucht, kann sich schnell "der Welt abhandengekommen" fühlen. Beim Klavierstück "Music for Marcel Duchamp" scheinen die verrutschten Glöckchen- und Harfenklänge von Cages "präpariertem" Klavier den Hörer mehr in die abseitige Welt japanischer Tempel in Kyoto zu versetzen als in einen hiesigen Konzertsaal.

Unbestimmtheit, Absichtslosigkeit und Zufallsprinzip - niemals durften sie missverstanden werden. Denn mit postmodernem Anything goes hatte Cage nichts zu tun, er war ein strenger Hüter der Genauigkeit seiner Konzeptionen und Notationen, die oft wie kunstvolle Grafiken aussehen.

Aber es ging Cage nicht um die Genauigkeit einer "Interpretation", mehr um ein Ethos der Ernsthaftigkeit. Wer dabei war, wie er im Bremer Überseemuseum seinen "Musicircus" organisierte und überwachte, nachdem er die verrückt simultane Aufführung von Stücken der halben abendländischen Musikgeschichte zwischen Bach und Boulez in allen Räumen, Fluren und Winkeln des großen Museums exakt geplant hatte, wer das Hören beim Wandern zwischen solchen ineinanderfließenden Klängen erlebt hat, der konnte etwas begreifen von Cages Philosophie der Unbestimmtheit und Entsubjektivierung.

Dann am Ende, typisch für die List des Mannes: Cage entzog sich den zum 80. Geburtstag fix und fertig geplanten Cage-Festivals, Cage-Ausstellungen oder Cage-Nächten, die jetzt zum 100. wie Pilze aus der Erde schießen, in letzter Minute - er starb am 12. August 1992.

"Komödie des Hörens"

Was damals kaum vorherzusehen war: die Langzeitwirkung der Resonanz, die der Person und ihrem Werk heute zuteil wird. Die Faszination beruht nun nicht mehr auf der Irritation oder Wut über einen Narren oder Scharlatan der Kunst, da entstand, wie bei Glenn Gould und der Callas: Heiligenverehrung.

Über die Gründe lässt sich spekulieren: Kunst und Lebenskunst des John Cage setzen sich aus Elementen zusammen, die für die Präzisionsmechanik und -ästhetik des 21. Jahrhunderts untypisch sind. Cage war kein Kompositionstechniker, vielmehr der Poet einer Utopie des Loslassens, ein Jünger des amerikanischen Naturvisionärs und Zivilisationskritikers Henry David Thoreau und des Nonsense-Mystikers Erik Satie.

Im Kommunikationstohuwabohu unserer Gegenwart bedeutet die Figur Cage ein Fanal der Entlastung - vom egomanen Ich wie vom globalen Zweckrationalismus: Die Dinge selbst dürfen reden, die losgelassenen Töne selbst sind es, die bewegen, nicht ihre variablen Bedeutungen.

Wenn der Italiener Luigi Nono sich in seinem Spätwerk mit der europäischen "Tragödie des Hörens" identifizierte, dann bietet sich für John Cage und seine Musik an: die fernöstlich inspirierte "Komödie des Hörens", wie sie in seinem verzweigten Œuvre enthalten ist - in den meditativen schrägen Klängen des mit Schrauben, Radiergummis, Nägeln präparierten Klaviers wie etwa dadurch, dass der Dirigent im Operntheater "Europeras" durch die Stoppuhr ersetzt ist. Also doch der Clown?

Vertiefung des Seins

Dass Cage, der den festgefahrenen Konstruktivismus der Schönberg-Schule und ihrer Nachfahren nach 1945 aufbrach, ausgerechnet bei Schönberg in Los Angeles studiert hatte, ist reine Ironie des Schicksals. Von Schönberg ist die Einschätzung überliefert, sein junger Schüler sei "vielleicht kein Komponist, aber ein genialer Erfinder". Cage konnte schreiben: "Meine Erinnerung an etwas Geschehenes ist nicht das, was wirklich geschehen ist." Das alte Erkenntnisdilemma, auch der Widerspruch zwischen Cages Erfindungen und dem Sprechen darüber.

Pi-hsien Chen, die mit dem Denken von Cage, Boulez und Stockhausen vertraute Musikerin und Lehrerin aus China, hat etwas über das Geheimnis der Zeit und der Leere bei Cage erfahren: "Leider wird die Zeit bei Cage nur durch Minuten/Sekunden definiert, es sind Zeit-Bausteine. Es verlangt schon sehr viel, die Qualität, die Überraschung in dem NICHTS zu finden. Es ist nicht nur Vertiefung des Hörens gefragt, sondern des Seins." Und jungen Komponisten, die ihn fragten, was er ihnen empfehlen würde, habe Cage gern mystisch geantwortet: Meister Eckhart lesen!

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