Johannes Varwick:Der G-Null-Gipfel

Johannes Varwick: Johannes Varwick, Jahrgang 1968, ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle-Wittenberg.

Johannes Varwick, Jahrgang 1968, ist Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle-Wittenberg.

(Foto: MLU)

Länder kann man nicht stabilisieren. Warum Europa zu schwach ist, die Ursachen des Elends zu bekämpfen.

Interview von Johan Schloemann

Die moralische Verpflichtung, den Flüchtlingen zu helfen, ist akut. Aber wo bleibt eigentlich die Weltgemeinschaft? Die SZ hat Johannes Varwick gefragt, der zur Geschichte und Gegenwart der Vereinten Nationen, aber auch zur EU forscht.

SZ: Zur Lage im Mittelmeer hört man jetzt oft: Man müsse natürlich sofort etwas tun - vor allem aber auch die Verhältnisse in den Ländern verbessern, aus denen die Flüchtlinge kommen. Ist die Entwicklungshilfe, die früher mal eine linke, progressive Forderung war, zu einem Abwehr-Argument geworden?

Johannes Varwick: Ich fürchte, alle technokratischen Ansätze - die Ideen, dass man Regionen von außen stabilisieren oder in ihrer Entwicklung fördern könne - sind mehr oder weniger gescheitert. Das gilt gleichermaßen für den Versuch, mit Blut und Schwert eine gewisse Stabilität oder gar Demokratie zu erzwingen, wie auch für die idealistische Herangehensweise, nämlich durch fairere Handelsbedingungen und die Regulierung des internationalen Wettbewerbs die Lage zu verbessern.

Aber haben sich nicht verschiedene Weltregionen auch positiv entwickelt?

Doch, es gibt auch Erfolge, vor allem in den Schwellenländern Asiens und Lateinamerikas. Aber dieser eigene Wohlstands- und Wachstumspfad wurde nur durch die Entwicklung des freien Marktes erreicht - ob einem das nun gefällt oder nicht, denn nicht überall geht dieser Aufschwung damit einher, dass Demokratie und Zivilgesellschaft aufblühen. Andere Regionen haben sich leider sehr schlecht entwickelt.

Und das kann man nicht ändern?

Jedenfalls ist große Bescheidenheit angebracht, was die Einflussmöglichkeiten angeht. Das heißt nicht, dass die Weltgemeinschaft den Kopf in den Sand stecken soll, im Gegenteil. Aber es heißt, dass gängige politische Rezepte wie "mehr Geld" oder "mehr Kriegseinsätze" (etwa in Libyen) sehr nüchtern zu sehen sind. Es bleibt eben ein Dilemma: Sollen die mächtigen Länder sich heraushalten oder nicht? Im Moment sind die anti-interventionistischen Realisten sehr stark in der Offensive.

Und warum reagiert die europäische Politik jetzt trotzdem mit der Devise "Verhältnisse vor Ort stabilisieren"?

Das ist erst einmal ein verständlicher Reflex auf die moralische Empörung, die ja auch geboten ist. Es darf einfach nicht hingenommen werden, dass Tausende Bootsflüchtlinge ihrem Schicksal überlassen werden. Gleichzeitig weiß natürlich jeder Politiker, dass eine komplette Öffnung der Grenzen innenpolitisch nicht durchsetzbar ist. Das heißt: Es gibt - selbst wenn die Hilfe für Schiffbrüchige verstärkt wird - de facto eine Abschottung; und diese kann man nach westlichen Standards nur dann verantworten, wenn man zugleich einen Ausblick auf eine mögliche Lösung des Problems in den Herkunftsländern anbietet.

Das kann man entweder als guten Willen ansehen - oder als einen zynischen rhetorischen Trick. Aber wie sieht es in globaler Perspektive aus? Wie kann man die extreme Ungleichheit angehen?

Die Weltpolitik steht zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes bei "G 0", wie man in der Fachdebatte sarkastisch sagt - es gibt also eigentlich weder die "G 7" oder "G 8" noch "G 20", sondern die Steuerung in der internationalen Zusammenarbeit ist bei null angekommen. Die USA ziehen sich zurück, und China, das aufsteigt, interessiert sich nicht für globale Ordnungsfragen. Dieses Vakuum, ja diese internationale Anarchie zeigt sich an einer ganzen Reihe von Krisen.

Der ewige Frieden ist nicht eingetreten nach dem Fall der Mauer?

Nein. Überall zerfallen Ordnungen, und niemand fühlt sich international wirklich dafür verantwortlich. Das ist gefährlich. Selbst eine hegemoniale Ordnungsstruktur ist immer noch besser als gar keine.

Und wirklich keiner tut etwas gegen diesen Zustand?

Natürlich gibt es viele internationale Anstrengungen: im Juli die Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba, im Dezember den Klimagipfel von Paris; es gibt die laufenden Verhandlungen zur "Post-2015-Agenda", und so weiter. Aber letztlich setzen sich die großen Mächte in der Welt nicht genug für die internationale Zusammenarbeit ein. So wird das nichts.

Es heißt doch, die Welt wachse durch ökonomische Verflechtung und globale Öffentlichkeit immer mehr zusammen. Globalisierungs-Optimisten sagen: Die Lage ist gar nicht so schlimm, der Wettbewerb hat viele zu Gewinnern gemacht. Die UN funktionieren vielleicht nicht, aber es geht vielen Menschen besser. Ist diese Sichtweise falsch?

Nein, quantitativ stimmt das schon: In den riesigen Bevölkerungen in China und Indien haben so viel mehr Menschen am wachsenden Wohlstand teil, dass sich die Gesamtbilanz weltweit verbessert hat. Hunderte Millionen Menschen sind durch die Globalisierung der Armut entkommen - dies wäre so mit keiner Entwicklungshilfe von außen möglich gewesen. Aber den armen und instabilen Regionen der Welt, in Afrika und im Nahen Osten etwa, bringt das leider gar nichts. Dort müsste die Weltgemeinschaft bewirken, dass die Staatlichkeit gestärkt wird; es müsste wirtschaftliches Wachstum gefördert werden, das zugleich ökologisch nachhaltig ist.

Klingt ziemlich unmöglich.

Vielleicht. Aber anders als durch eine verbindliche internationale Kooperation lässt es sich schon gar nicht erreichen. Der politische Interessensausgleich fällt einfach nicht vom Himmel, er muss organisiert werden.

An diesem Donnerstag treffen sich die EU-Regierungschefs. Glauben Sie, dass die EU in der aktuellen Flüchtlingskrise die Weltgemeinschaft als Akteur ersetzen kann?

Leider nein. Europa ist auf der internationalen Bühne ein gespaltener Akteur, es gibt keine wirklich gemeinsame Politik, auch keine gemeinsame Flüchtlingspolitik. Und ich glaube nicht, dass die jüngsten Initiativen etwas daran ändern werden.

Wird es jetzt nicht stärkere finanzielle Anstrengungen geben, um die Lage in Afrika und Nahost zu verbessern?

Sicher wird es mehr Geld geben. Aber ohne echte Weltpolitik wird das ein Tropfen auf den heißen Stein bleiben. Es wird die Probleme nicht lösen. Und Europas Politik allein ist das noch nicht einmal vorzuwerfen.

Sind also alle Hoffnungen perdu, im Vergleich zur Weltlage vor noch ein paar Jahren, als man noch auf Obama und den Arabischen Frühling hoffte?

Jedenfalls haben viele Erwartungen getrogen. Nehmen Sie nur einmal das Beispiel Libyen, das jetzt als Zwischenstation der Flüchtlinge im Mittelpunkt steht: Die militärische Intervention dort war wohl richtig, aber sie ging nicht weit genug - es fehlte der lange Atem, und jetzt hat man dort einen zerfallenen Staat. Mit dem früheren Staatschef Gaddafi hätte man die aktuelle Not der Flüchtlinge wahrscheinlich besser in den Griff bekommen können.

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