Jazz und Avantgarde:Warmer Staub

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Mark Turner und Stefano Bollani haben eines der schönsten Jazz-Alben der jüngsten Zeit aufgenommen: "Joy in Spite of Everything". Das Saxofon wirbelt viele kleine Partikel auf, pure Intelligenz hält die Überraschungen zusammen..

Von Thomas Steinfeld

Manchmal klingt das Instrument des amerikanischen Saxofonisten Mark Turner, als liege eine dünne Schicht Staub darauf. Jedes Mal, wenn er hineinbläst, werden unendlich viele kleine Partikel aufgewirbelt, worauf ein widersprüchlicher Effekt entsteht: Während die Töne wie hinter einen feinen Schleier zurücktreten, werden sie zugleich physisch wahrnehmbarer. Es ist, als besäßen sie eine zarte Körnung, und sie ist von ganz anderer, viel subtilerer Art als das Raspelhafte, das dieses Instrument - gern auch mit viel Luft versehen - zum Lieblingsgerät vermeintlich ausdrucksstarker Seelen werden lässt.

Es ist, als ob die Körnung dafür sorgte, dass da jemand mit Plan und Absicht diesen oder jenen Ton spielt, das Gewollte und das Gedachte treten heraus. Und weil Mark Turner sein Saxofon in warmen, festen und vollen Tönen spielt, die selbst im Diskant nichts von ihrer Rundheit verlieren, mag dieser Staub zur Erzeugung einer intellektuellen Distanz dienen. Er nimmt den Seelenton nicht zurück. Aber er lässt deutlich werden, dass er nicht auf Kosten des Verstands geht.

Die Töne treten wie hinter einen feinen Schleier zurück, zugleich werden sie physisch wahrnehmbarer: Der Jazz-Saxophonist Mark Turner. (Foto: ECM)

Wer diesen Staub hören will, sollte sich "Las Hortensias" anhören, eine Ballade, die mit einer kleinen Melodie auf dem Kontrabass beginnt. Sie hört sich zunächst an, als wolle der schwermütige Rübezahl einen Berg besteigen. Dann nimmt sie aber plötzlich eine Wendung ins Muntere und im Dreivierteltakt Hüpfende. Das Saxofon übernimmt diese Melodie, für eine kurze Weile schreiten Bass und Horn nebeneinander, und dann beginnt der Bass zu prüfen, wie viel Freiheiten in dieser Melodie stecken. Ausgespielt werden diese Freiheiten indessen erst vom Saxofon, und es ist erstaunlich, was Mark Turner aus ihnen macht, in weit ausholenden, biegsamen Bögen und Sprüngen, die einen großen Reichtum an melodischer, harmonischer und rhythmischer Erfindung in sich bergen.

Ein ungewöhnliches Quintett

Eine ganze Welt musikalischer Möglichkeiten scheint vor diesem Saxofonisten zu liegen, und was immer er sich daraus nimmt, fasst er mit Klugheit und Diskretion an, weit jenseits der Tradition John Coltranes und der rasenden Linien des Bebop. Wobei sein eigentliches Gegenüber auf der Schallplatte, auf der "Las Hortensias" enthalten ist, nicht der dänische Bassist Jesper Bodilsen ist, sondern Stefano Bollani. Und überhaupt ist es dieser Pianist, der auf den Aufnahmen von "Joy in Spite of Everything" ( ECM Records) die Regie führt, mit der ihm eigenen Virtuosität, der Prägung durch Sergej Prokofjew und seiner Herkunft aus dem italienischen Jazz.

Es ist ein ungewöhnliches Quintett, das Stefano Bollani für diese Schallplatte zusammenstellte: Neben den beiden Dänen, dem Bassisten und dem Schlagzeuger Morten Lund, mit denen Stefano Bollani früher schon eher lyrischen Jazz gemacht hatte, ist nicht nur Mark Turner dabei, sondern auch der Gitarrist Bill Frisell. Ist das nicht ein wenig viel Harmonie für einen Saxofonisten, der alles selber kann? Der Eindruck täuscht. Eher schon bilden die fünf Musiker ein Kammerorchester mit sehr hohen Ambitionen: Frisells glockenreiner Ton, die Flageoletts und lang schwebenden Akkorde bilden einen deutlichen klanglichen Kontrast zu Mark Turners Staubtönen, und Stefano Bollani kostet viel weniger seine großen Fähigkeiten als Solist aus, als dass er, immer wieder auch im selben Stück, für kompositorische Überraschungen sorgt, gleichsam die Ohrenfenster aufreißt und den akustischen Raum weit werden lässt, hin zu den wiegenden Tänzen der Karibik, zu den motorischen Linien der russischen Avantgarde, zum sachte dahinrollenden Groove der amerikanischen Westküste.

Was diese Überraschungen zusammenhält, muss pure Intelligenz sein, ein klarer Blick für die Lage, die im Zweifelsfall immer betrüblich, wenn nicht sogar ärgerlich ist, und der Entschluss, trotzdem gute Musik zu machen. Stefano Bollanis "Joy in Spite of Everything" ist eines der schönsten Jazz-Alben der vergangenen Jahre, und wenn dann das von Bill Frisells Gitarre geprägte Stück "Ismene" ertönt, erinnert diese Ballade zwar daran, wie manche Schallplatten der Firma ECM in den Siebzigern klangen, doch zugleich kündet sie davon, dass manche Errungenschaften eben bleibend sind.

Könnte man den Existentialismus modernisieren, man fände hier die passende Musik

Fast gleichzeitig mit dem Album der von Stefano Bollani geleiteten Gruppe ist ein Album erschienen, das in mancherlei Hinsicht den Widerpart dazu darstellt. Auch diese Schallplatte wird geprägt von Mark Turners Staubton. Aber in seiner eigenen Band hat er die Instrumente fortgelassen, die aus sich heraus für harmonischen Halt und klangliche Breite sorgen: In "Lathe of Heaven" bildet die Trompete Avishai Cohens das Gegenüber zum Saxofon, und wenn der melodische Reichtum auch keineswegs geringer ausfällt, so erfordert das Spiel im Quartett ohne Harmonieinstrument doch eine weitaus strengere musikalische Ökonomie, und auch Kühle und Sprödigkeit gehören zum Konzept. Aber dann entstehen aus den langen Schlangenkurven von Saxofon und Trompete - auch sie manchmal der klassischen Avantgarde näher als dem Jazz -, aus ihrem In- und Gegeneinander Klangbilder von einsamer, abstrakter Schönheit.

Gäbe es noch wirkliche Films noirs, könnte man den Existenzialismus modernisieren, man fände hier die passende Musik, in den ebenso gewagten wie konsonanten, fast unheimlichen Linien des Stücks "Brothers and Sisters" etwa oder im Ostinato von "The Edenist". Aber vielleicht ist es so, dass große Teile dieses Stils in eine zeitgenössische Klassik eingegangen sind, die man nur nicht als solche wahrnimmt, weil sie noch von der Erinnerung an eine vergangene Avantgarde verdeckt wird. Und wenn diese Linien danach auseinandergenommen werden, Passage für Passage, bis sie fast nach Ornette Coleman und freiem Spiel klingen, dann verlieren sie auch in der Demontage ihren ästhetischen Reiz nicht, sondern bleiben auf diskrete Weise neu und schön. Vielleicht muss man sich gegenwärtig um die Einkommensverhältnisse von Jazzmusikern Sorgen machen. Für ihre Musik gilt das nicht.

© SZ vom 06.09.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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