Jazz:Schweißtreibend leichtfüßig

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Das Berliner Jazzfest schafft den Anschluss an die Gegenwart. Jazz wirkt im Jahr 2017 aber nicht allein deshalb wieder zeitgenössisch, weil er von jungen Menschen für ein junges Publikum gespielt wird.

Von Jan Kedves

Junge Menschen betteln vor einem Club in Kreuzberg, wo sonst Indierock- und Britpop-Bands auftreten, darum auf die Warteliste zu kommen, bitte, bitte. Sie haben sich zu spät um Tickets gekümmert, drinnen startet schon das Berliner Jazzfest. Solche Szenen gab es lange nicht, aber es gab sie am Dienstag und Mittwoch, und allein deswegen muss man sagen: Umzug gelungen. Der scheidende Leiter des Jazzfests, Richard Williams, hat dem Festival zur Verjüngung und Urbanisierung eine, wie er sagt, "derbere Spielstätte" verordnet, für die ersten beiden Abende. Tatsächlich hätten die gebuchten Musiker in das gediegene Waschbeton-Ambiente des Hauses der Berliner Festspiele in Wilmersdorf, wo das Jazzfest sonst stattfindet, nicht hineingepasst. Sie passten ins Lido.

Wie immer bei Ortswechseln muss man sich in der neuen Umgebung erst zurechtfinden. Dem gesetzteren Stammpublikum fiel das nicht schwer, denn im Lido gibt es zwar keine Bestuhlung, aber auf einem Podest entlang der Wand links wartet eine lange Polsterbank. Darauf macht man es sich schon bequem, während die New Yorker Combo Heroes Are Gang Leaders schon ihren maximalen, leider sehr schlecht abgemischten Freak-out zelebriert. Sieben Männer und vier Frauen aus New York vertrauen darauf, dass sich im wilden Zusammenwerfen von Jazz, Funk, MC-Animation, Soul und Anti-Trump-Parolen politische und künstlerischer Relevanz ergeben wird. Das könnte funktionieren. Aber wenn ausgerechnet die vier Frauen so leise gemischt sind, dass man sie kaum hören kann, dann achtet man umso mehr darauf, wie drei von ihnen sich betont lasziv rekeln und dazu von ihren männlichen Kollegen auch animiert werden. Eine Rollenverteilung, die ins Jahr 2017 eher nicht passt.

Da hätte es also schon kippen können, das neue Kreuzberger Jazzfest, noch dazu spielte der Sound-Mann in der Umbaupause den "Blade Runner"-Soundtrack von Hans Zimmer ein, also: das genaue Gegenteil von Jazz. Hatte denn niemand in der Organisation daran gedacht, dass man zwischen den Auftritten im Lido passende Einspielmusik bräuchte?

Sollte Jazz neben Hip-Hop gerade wirklich die politischste aller populären Musiken sein?

Dann aber kommt, als zweiter Act des Abends, Shabaka Hutchings aus London mit seinem Ensemble The Ancestors auf die Bühne. Wenn gerade überall viel davon gesprochen wird, dass Jazz endlich wieder die Jungen und die Hipster erreicht, dass sie in ihm eine Dringlichkeit und Power hören, die Pop und Rock gerade eher nicht haben, dann liegt das an Ensembles wie seinem. Jeder einzelne Musiker virtuos, das Zusammenspiel überwältigend, der Groove schweißtreibend leichtfüßig. Und mit Siyabonga Mthembu aus Südafrika ist ein Vokalist dabei, dessen Spoken-Word-Mantras sich ohne jegliche Penetranz in den Kopf bohren: "Wir brauchen neue Hymnen! Wir müssen unsere Politik feminisieren! Black Lives Matter!" Ist Jazz neben Hip-Hop gerade wirklich die politischste aller populären Musiken? Womöglich.

Der Eindruck verstärkte sich jedenfalls am Mittwoch bei Amirtha Kidambi aus Brooklyn, die mit ihrem Quartett Elder Ones gekommen war. Sie verbindet klassische südindische Musik mit melismatischem Gesang, mit Harmonium, Drums, Bass und Sopran-Saxofon. "Eat the Rich" heißt eines ihrer Stücke, ein anderes ist Eric Garner gewidmet, dem Afroamerikaner, der in New York 2014 festgenommen wurde und im Schwitzkasten eines Polizisten erstickte. Kidambi vertont sein Ringen nach Luft mit einer irren vokalen Verausgabung, Flatteratmung, Schnappen, Keuchen, Grunzen, Kieksen. Erschütternd überzeugend.

Wobei im Publikum die fragenden Blicke zu wandern beginnen, meist zwischen Männern und Frauen. Denn sie sind natürlich auch da: die mittelalten deutschen Paare, die sich vom Jazz anscheinend eher sanfte Aphrodisierung versprechen als Politisierung. Einige wollen schon zurück zum Ausgang, was anderen erlaubt, näher an Kidambi und ihr aufgebocktes Harmonium heranzurücken. Herrlich anzuschauen ist es, wie sie mit ihm die Orgelpunkte hält und mit nickenden und in den Nacken geworfenen Kopfbewegungen ihr Ensemble dirigiert, dabei immer singend. Es ist immer wieder faszinierend, wie allein durch genaue gegenseitige Beobachtung und Aufeinanderhören ein gemeinsamer Puls durch Musiker strömen kann.

An dieser grandiosen Performance lag es wohl auch, dass Sélébéyone danach nicht mehr recht zünden konnten. Der amerikanische Saxofonist Steve Lehman hat für sein Projekt erstklassige Instrumentalisten versammelt, und mit HPrizm aus New York und Gaston Bandimic aus Senegal sind zwei gute Rapper dabei. Aber Musiker, die sich um einen in der Mitte der Bühne aufgeklappten Laptop scharen, um dann mit Klick im Ohr eher sklavisch als improvisierend hinter fertig abgespielten Drum-&-Bass-Soundscapes hinterherzuhetzen? Das wirkt wie stecken geblieben in den Neunzigerjahren.

Interessante Beobachtung: Jazz wirkt im Jahr 2017 nicht allein deshalb zeitgenössisch, weil er von jungen Menschen für ein junges Publikum gespielt wird, sondern weil er - wie bei Shabaka And The Ancestors oder bei Amirtha Kidambi & Elder Ones - größtmöglichen Abstand zur digitalen Ästhetik und Taktung hält.

© SZ vom 03.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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