Literatur:Warum Jane Austens Frauenfiguren so lebendig sind

Zum 200.Todestag von Jane Austen

Eine Tante habe einigen Einfluss, fand Jane Austen, die am 18. Juli vor 200 Jahren starb.

(Foto: -/dpa)

Vor 200 Jahren starb die britische Schriftstellerin Jane Austen. Dass man ihre Protagonistinnen nicht vergisst, hat etwas mit dem Fehlen der Mütter zu tun.

Gastbeitrag von Colm Tóibín

Warum bleiben die Frauen in Jane Austens Romanen in der Erinnerung so lebendig, warum sind sie in den Büchern so wunderbar gegenwärtig? Warum erscheint das Werk dieser Schriftstellerin, die am 18. Juli vor 200 Jahren starb, als so anmutig, geistvoll, ironisch und mitreißend? Jane Austen kennt mehrere Möglichkeiten, ihren Charakteren ein fein ausgearbeitetes Innenleben zu verleihen. Eine davon besteht darin, ihre jungen Heldinnen ins Leben treten zu lassen, ohne dass sie dabei von ihren Müttern begleitet werden.

Austen schildert die Unentschiedenheit, die Hoffnung, das langsame Heranwachsen eines Menschen, und sie berichtet von der Kraft des Alleinseins. Für sie ereignen sich die Schlüsselszenen in einem Roman dort, wo die Heldin nur sich selbst begegnet, wo niemand da ist, der sie beschützte, niemand, dem sie sich anvertrauen könnte, niemand, der ihr einen Rat gäbe. Dann wenden sich ihre Gedanken nach innen, und es entwickelt sich eine Spannung nicht zwischen Generationen oder zwischen Überzeugungen, sondern innerhalb eines verwundeten, getäuschten oder hin- und hergerissenen Ichs.

Die Macht liegt nicht bei der Familie, sie geht zurück auf die Intelligenz der Protagonistin

Durch die Anwesenheit einer Mutter in solchen Momenten entstünde ein Bruch in der unbedingten Privatheit des sich entwickelnden Ichs, in der Wahrnehmung seiner Einmaligkeit und Abgeschlossenheit, in einem moralischen Bewusstsein, das seiner selbst noch unsicher ist, in jener reinen und gleichsam fließenden Individualität, von der die Romane leben. In Jane Austens Erzählprosa bilden deshalb nicht Mutter und Tochter eine verschworene Gemeinschaft, sondern die Heldin und der Leser.

In den letzten drei Romanen Jane Austens - "Emma", "Die Abtei von Northanger" und "Überredung" - haben die Heldinnen keine Mütter. Austen lässt diese Abwesenheit jedoch nicht als Mangel erscheinen. Sie ist den Protagonistinnen nicht anzumerken, sie beschäftigt sie nicht. Stattdessen scheint sich dadurch ihre Selbstwahrnehmung zu steigern. Ihre Persönlichkeiten treten innerhalb der Erzählung immer stärker hervor, als ob sie allmählich einen Raum ausfüllten, der planvoll und im Stillen dafür geschaffen wurde.

Ihre Macht geht ausschließlich auf die Intelligenz der Protagonistin zurück

In "Stolz und Vorurteil" gibt es eine Mutter, aber in dem Buch treten auch zwei Tanten auf, nämlich Elizabeths Bennetts Tante Gardiner und Mr. Darcys Tante Catherine de Burgh. Das literarische Genie Jane Austens erweist sich im Umgang mit dieser Mutter: Während der Roman sich ihrer Macht und ihrem Einfluss zuzuwenden scheint, wird sie zugleich kaltgestellt, auf eine ebenso komische wie schonungslose Art. Die beiden Tanten dagegen werden in deutlich unterschiedenen und feinen Nuancen geschildert, indem die eine mit einem ruhigen, zivilisierend wirkenden Scharfsinn ausgestattet wird, die andere mit einer theatralischen Neigung zur Selbstermächtigung.

Die Macht liegt hier jedoch nicht bei der Familie, sondern unmittelbar in den Händen der Heldin, und diese Macht geht ausschließlich auf die Intelligenz der Protagonistin zurück. Ihre Fähigkeit, allein zu sein, sich allein zu bewegen, sich allein zu zeigen, allein ihre Schlussfolgerungen zu ziehen, unterscheidet sie von allen anderen Figuren des Romans.

Für Jane Austen waren Tanten wichtiger als Mütter. Als ihre Nichte zur Tante wurde, schrieb sie ihr: "Jetzt, als Tante, sind Sie eine Person von einigem Einfluss und werden mit allem, was Sie tun, große Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ich habe die Bedeutung der Tanten stets hervorgehoben, so gut ich es vermochte, und ich bin mir gewiss, dass Sie jetzt das Gleiche tun werden." Jane Austen, die unverheiratet blieb, stand ihren Nichten und Neffen nahe. Um manche von ihnen kümmerte sie sich, nachdem deren Mütter gestorben waren, und es scheint, dass alle sich später mit großer Zuneigung an sie erinnerten.

Menschen mit ererbtem Vermögen konnten zu Austens Zeit plötzlich als selbstherrlich wahrgenommen werden

In "Stolz und Vorurteil" stehen die beiden Tanten auch für ein sich wandelndes England. Mrs. Gardiners Ehemann, der wiederum Mrs. Bennetts Bruder ist, lebt von Handelsgeschäften. Elizabeth erneuert ihre Beziehungen zu Darcy, während sie mit Onkel und Tante reist.

Andererseits nimmt sich Jane Austen die Freiheit, Lady Catherine de Burgh, Darcys Tante, als gebieterisch und komisch darzustellen, wobei ihr Geld und ihr Einfluss sie eher lächerlich als eindrucksvoll wirken lassen. Sie ist eine Tante, die nicht herrscht. Ihre Gegenwart im Buch dient dazu, ihrem Neffen Darcy mehr Individualität zu verleihen. Er erhält dadurch mehr Möglichkeiten, er selbst zu sein, nicht nur Teil eines Systems. Die literarische Aufgabe seiner Tante besteht also weniger darin, uns zu amüsieren oder uns einen Aspekt des englischen Charakters vorzuführen, den Jane Austen töricht fand, als vielmehr darin, ihrem Neffen, der ihr den Gehorsam verweigert, eine Art Freiheit zu gewähren, eine Möglichkeit, für sich selbst zu stehen - was ihn nicht nur Elizabeths würdig macht, sondern ihn auch der moralischen Statur des Romans entsprechen lässt.

In dieser nämlich ist schon vorgezeichnet, dass nur diejenigen, die bereit sind, aus dem Einflussbereich ihrer Familien herauszutreten, die durch Blutsbande und Erbschaft definierte Sphäre sozialer Kontrolle zu verlassen, um zu persönlicher Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu gelangen, auch in anderen Bereichen der englischen Gesellschaft wichtige Funktionen übernehmen werden, je weiter das 19. Jahrhundert voranschreitet.

Jane Austen verstand die sonderbare Dynamik einer erweiterten Familie. Sie hatte begriffen, wie sie innerhalb ihrer Grenzen flüssig und unsicher werden kann, gebunden und ungebunden zugleich. Marilyn Butler weist darauf hin, dass sowohl Jane Austen als auch ihre Schwester Cassandra "eine Schlüsselrolle als Reisende und fleißige Vermittler zwischen den Haushalten (ihrer Brüder) spielten ... Jane in größerer Nähe zu ihren beiden jüngeren Brüdern ... Die Schwestern bewährten sich als gute Tanten und als Freundinnen der folgenden Generation."

Die eine Tante ist freundlich, die andere eine Menschenfresserin

Der Roman "Mansfield Park" beginnt damit, dass eine Familie auseinanderbricht. Er nimmt Fanny Price aus ihrer verarmten Familie heraus und übergibt sie, fast wie ein untergeschobenes Kind, der Obhut ihrer beiden Tanten. Die Tatsache, dass sie keinen Pfennig besitzt, macht sie schutzlos und erlegt ihr Demut und Zurückhaltung auf. Sie hat aber auch zur Folge, dass sie ihre Umgebung mit großer Sorgfalt beobachtet.

Die Schicksalsfrage

Die Frage, welchen Mann eine junge Frau heiratet, scheint die sechs großen Romane Jane Austens (1775 -1817) zu beherrschen. Die Frage ist für das gesellschaftliche Leben im England des frühen 19. Jahrhunderts entscheidend, zumal für den weiblichen Part. Denn an ihr entscheidet sich nicht nur, ob und welchen sozialen Rang eine Frau einnimmt, sondern auch, ob und wie sie ihr eigenes Leben zu gestalten vermag. Jane Austen verwandelt diese Frage in ein literarisches Motiv von ebenso großer poetischer wie analytischer Kraft: An ihr entfaltet sich die Gesellschaft mit all ihren offenen, halbverborgenen und verborgenen Absichten, sie wird zum Katalysator weiblichen Bewusstseins und Selbstbewusstseins, an ihr entscheiden sich Moral und Glück der Heldin. Es fällt schwer, eine andere Schriftstellerin - oder gar: einen Schriftsteller - zu finden, der aus einer solchen, gleichsam formal en Frage so viel Erkenntnis und fast soziologische Präzision gezogen hätte. Jane Austen selbst, die Dame aus dem ländlichen Bürgertum der südenglischen Grafschaft Hampshire, scheint sie mit ebenso viel Neugier wie Distanz betrachtet zu haben. Sie selbst blieb unverheiratet, die Werbung eines vermögenden, um Jahre jüngeren Mannes lehnte sie ab, und es ist zu vermuten, dass sie damit, in einem ruhigen, bescheidenen Leben, auch ganz und gar einverstanden war - leise pendelnd zwischen ihrem Jungfernsitz und dem Gut des Bruders. Das große Interesse schließlich, das seit etwa zwei Jahrzehnten dem Werk und dem Leben Jane Austens entgegengebracht wird, ist eng mit dem Frage nach der Heirat verknüpft: mit dem Ineinander von Heil und Katastrophe, von bürgerlicher Form und persönlichem Schicksal. Thomas Steinfeld

Da der Beginn des Romans deutliche Züge eines Märchens trägt, muss es eine Versuchung für Jane Austen gewesen sein, Lady Bertram - die Tante, in deren Haus Fanny leben wird - als böse Menschenfresserin zu gestalten und Mrs. Norris, die in der Nähe wohnende Tante, als freundliche und besorgte Gegenfigur. Oder beide zu Menschenfresserinnen zu machen.

Austen entschied sich dafür, alle Bosheit an Mrs. Norris zu übergeben. Mrs. Norris lässt von vornherein keinen Zweifel an Fannys prekärer Lage: Sie gehört zwar insoweit zur Familie, als man ihr Obdach gewähren muss, aber sie gehört nicht genug dazu, um nicht regelmäßig gedemütigt zu werden. Als Fanny sich zum Beispiel weigert, in einem Theaterstück mitzuspielen, stellt Tante Norris sie in ihrer Isolation und Verletzlichkeit bloß: "Sie wird bei mir den Eindruck eines sehr widerspenstigen Mädchens erwecken", sagt sie, "wenn sie nicht tut, was sie ihre Tante und ihre Cousins wünschen - sehr undankbar, in der Tat, wenn man bedenkt, wer und was ihr Cousin ist."

Heldinnen wie Elizabeth Bennett in "Stolz und Vorurteil", Fanny Price in "Mansfield Park" und Anne Elliot in "Überredung" sind überzeugende, lebendige Charaktere, aber sie sind auch Teil einer sich verändernden englischen Gesellschaft, in der Menschen mit ererbtem Vermögen als selbstherrlich wahrgenommen werden können. Auf der anderen Seite erscheinen nun eine angeborene Feinheit des Gemüts, eine innere Tiefe oder die Fähigkeit, allein zu sein, als Tugenden, die sich allmählich gegen die robusten, stabilen Kräfte der Beharrung durchsetzen - und, je mehr der Roman auf sein Ende zugeht, sowohl der Heldin als auch dem Leser große Genugtuung verschaffen.

Der irische Schriftsteller Colm Tóibín. Jahrgang 1955, veröffentlichte zuletzt den Roman "Nora Webster". Aus dem Englischen von Thomas Steinfeld

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