Jahrhundertgeiger:Nur der Freie kann Musik machen

Als ob ein Tor zu einem neuen Kontinent aufgestoßen würde: Dem Jahrhundertgeiger Itzhak Perlman zum 70. Geburtstag.

Von Harald Eggebrecht

Introduktion Als in den Sechzigerjahren sein Geigenton erstmals erklang, war es, als ob ein Tor aufgestoßen würde zu einem neuen Kontinent in der Geschichte des Violinspiels. Nachkriegshelden wie Yehudi Menuhin, David Oistrach, Arthur Grumiaux, auch Nathan Milstein und Isaac Stern waren in die Jahre gekommen, Henryk Szeryng, Leonid Kogan, Christian Ferras waren auf dem Höhepunkt, Ivry Gitlis und Ida Haendel galten als fesselnde Außenseiter. Dennoch schien es, als fehle der Geigerlandschaft ein neuer Blick, eine neue Höhe, eine frische, weite Perspektive.

Und dann saß da, gehandicapt durch eine frühe Polio-Erkrankung, Mitte der Sechzigerjahre ein junger Mann auf den Podien der Welt, der mit einzigartigem Ton begabt war - und ist, dessen Wärme, Leuchtkraft und Farbenreichtum nahezu süchtig machten und immer noch machen können: Itzhak Perlman. Bis heute hat er auf wundersame Weise den Satz Sergiu Celibidaches verkörpert, dass "nicht Musik frei macht, sondern nur der Freie Musik machen kann". Auch der legendäre Cellomeister Janos Starker sei im Zusammenhang mit Perlman zitiert, weil beide Granden den jungen Geiger als Offenbarung sahen: Man solle das Instrumentalspiel nicht auf den menschlichen Schwierigkeiten aufbauen. Wer Itzhak Perlman je hat spielen sehen, weiß, was Freiheit und Mühelosigkeit beim Musizieren bedeuten.

Allegro aperto Itzhak Perlmans Erscheinen lässt sich wohl mit jenem weltweiten Erstaunen und der folgenden Begeisterung vergleichen, die Anfang des 20. Jahrhunderts Mischa Elman auslöste, rasch gefolgt von Jascha Heifetz und Toscha Seidel. Wie damals die russisch-jüdischen Violinzauberer aus der Schule des St. Petersburger Meisters Leopold von Auer, so tauchten jetzt aus der New Yorker Talentschmiede von Ivan Galamian und Dorothy DeLay weitere grandiose Geiger auf wie Pinchas Zukerman und Kyung Wha Chung. In Moskau wurde der ganz anders ausgerichtete Gidon Kremer im besten Sinne Perlmans Antipode. Diesem fulminanten Aufbruch folgten bald die Stars aus Deutschland Anne-Sophie Mutter, Frank Peter Zimmermann und Christian Tetzlaff.

Perlman steht am Beginn der bis heute ungebrochenen Entwicklung großen Geigenspiels

Scherzo Perlman steht am Beginn dieser bis heute ungebrochenen Entwicklung großen Geigenspiels. Doch niemand besitzt so viel Humor und Ironie wie dieser Musiker. Wenn er Fritz Kreislers Miniaturen bietet, Scott Joplins Ragtimes lässig serviert, dann mit der ernsthaftesten Leichtigkeit seines musikalischen Genies. Bei Joplin blitzt es von rhythmischem Pfiff, melodischem Einfallsreichtum, harmonischer Raffinesse. Bei Kreisler imitiert Perlman nicht, sondern vermag die geistvollen, stets mit höchstem Kunstverstand komponierten Stücke als ironische Aphorismen und wehmütige Aperçus auf eine Salonvergangenheit zu spielen, wie sie so schön in Wirklichkeit nie war. Mit Oscar Peterson hat er "Mackie Messer" so gefährlich wie witzig auftreten lassen, mit André Previn und einer kleinen Combo hat er melodiösem Swing gehuldigt. Und als Klezmergeiger kann ihm niemand das Wasser reichen.

Adagio cantabile Doch auch der Bach-, Beethoven- und Brahms-Spieler sucht seinesgleichen. Gewiss, er versteht Bach als Monumentalmusik, aber ist immer auf die Transparenz des Stimmengeflechts, das Motorisch-Tänzerische der schnelleren Sätze und die Vitalisierung des jeweiligen Satzcharakters bedacht. Kantilenen bei Beethoven, Brahms, Bruch, Sibelius, aber auch bei Béla Bartók, William Walton, Samuel Barber vermag er auszusingen, als ende sein Bogen niemals in betörender Klangschönheit, technischer Makellosigkeit und sinnlicher Kraft.

Er liebt gutes Essen, kocht sehr gern, ist vergnügter Patriarch einer großen Familie

Intermezzo Niccolò Paganinis 1. Violinkonzert schließt mit einem "Rondo. Allegro sprituoso". Wer das nur perfekt abliefert, hat nichts vom Geist dieser Musik begriffen. Perlmans phänomenale Instrumentalbeherrschung gibt ihm die Freiheit zu verweilen, auszuspielen, zu charakterisieren, zu pointieren. Was bei vielen seiner Kollegen zur ermüdenden Technikschau ausartet, bleibt bei ihm in jedem Takt eine gestische, szenische Musik, als verberge sich in diesem Rondo eine kleine Rossini-Oper mit alten Herren und schönen Damen, mit jungen Kavalieren und frechen Barbieren. Auf engem Raum ausdrucksvoll zu phrasieren, den Ton vielfältig zu färben, die Lust, keinen Scherz, keine Andeutung dieser gestaltenreichen Musik zu versäumen, und das alles mit diesem unvergleichlich in allen Lagen und Facetten glänzenden Geigenklang, all das kann niemand so wie Itzhak Perlman.

Finale Am 31. August 1945 wurde er in Jaffa in Israel geboren, bei Galamian und DeLay in New York ausgebildet. Er lebt dort und unterrichtet an der Juilliard School. Bekannte Schüler sind etwa Ilya Gringolts und David Garrett. Seine Lebensfreude und Musizierlust, sein Witz und seine kommunikative Unmittelbarkeit teilen sich auf der Bühne sofort mit. So ist er zur Ikone des amerikanischen Kulturlebens geworden. Ob im Fernsehen, ob mit Jazzgrößen wie Dizzy Gillespie oder mit einem Bluegrass-Fiddler, Perlmans Charisma und geigerische Entspanntheit kennen keine Grenzen. John Williams hat ihm die Melodie zu Steven Spielbergs "Schindler's List" auf den Leib geschrieben, auch in anderen Filmen ertönt seine Geige. Er ist einfach ein Weltstar, der im Weißen Haus auftritt und bei Obamas Inauguration mit dem Supercellisten Yo-Yo Ma und der Pianistin Gabriela Montero spielte.

Er liebt gutes Essen, kocht sehr gern, ist vergnügter Patriarch einer großen Familie, hasst aber das Reisen. Daher haben wir den Jahrhundertgeiger lange nicht in Europa erleben dürfen. Wenn er im kommenden Frühjahr zum einzigen Konzert in Deutschland nach München kommt, gilt es Itzhak Perlman wahrlich gebührend zu feiern, wie es jetzt schon die ganze Musikwelt zu seinem siebzigsten Geburtstag tut.

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