Jahrhundert der Pferde:Im Galopp

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Einst haben sie den Menschen mit Energie und Mobilität versorgt. Dann verloren die Pferde an Bedeutung, blieb nur noch Ponyhof-Romantik für sie. Ulrich Raulff besichtigt nun das letzte Jahrhundert der Pferde.

Von Fritz Göttler

Der Abschied vom Pferd, dem dieses Buch sich widmet, hatte noch einen weiteren Abschied zur Folge. "Der seit 1960 fühlbar werdende Mangel an Pferdeäpfeln machte nicht nur dem traditionsbewussten Teil der Dorfjugend schwer zu schaffen, er traf auch das kleine Volk der Spatzen schwer. Solange es Pferde gab, lebten die Spatzen, ob auf dem Land oder in der Stadt, wie Gott in Frankreich. Der Pferdekot enthielt immer noch beträchtliche, jedenfalls für einen Spatzenmagen erhebliche Reste dessen, was auch die Lieblingsspeise der Pferde war: Er war haferhaltig. Das liegt an der Natur des Haferkorns, das durch die umhüllenden Spelzen stabiler verpackt ist als die Körner anderer Getreidearten . . . Im selben Maß wie die Pferde verschwanden, ging auch der Haferanbau zurück."

Mit souveräner Eleganz lässt Ulrich Raulff - ehemals Redakteur im SZ-Feuilleton, nun Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach - in seiner passionierten Pferde-Geschichte die diversen Wissenschaften gemeinsam spielen, bringt das Große und das Kleine zusammen, das Erhabene und das Niedrige, das Universelle und das Persönliche, die politische und die Alltagsgeschichte. Er ist in einem kleinen Ort in Westfalen aufgewachsen und gehörte damit zur traditionsbewussten Dorfjugend - das heißt, er hat sich dem dort üblichen Initiationsritual, der Mutprobe bei der Aufnahme in eine der vielen Jugendbanden unterzogen. "Sie bestand darin, vor den Augen der arrivierten Bandenmitglieder ein prominentes ländliches Produkt zu essen . . ."

Das Ende einer großen Freundschaft - Mustangfang in "The Misfits". (Foto: elliott erwitt/Magnum Photos)

Heute überlebt das Pferd nur noch in der extremen Form der Domestizierung, in idyllischer Ponyhof-Romantik, in Mädchenträumen. Jahrhunderte lang aber war das die wesentliche historische Verbindung, die Arbeitsgemeinschaft von Mensch und Pferd, der "kentaurische Pakt", schreibt Ulrich Raulff. Die Pferdestärken haben gewaltig beigetragen zur kulturellen Entwicklung der Menschheit, haben für Energie und Mobilität gesorgt. 2003 hatte Reinhard Koselleck, um einen anderen Blick auf die Geschichte zu forcieren, die Geschichte dreigeteilt, in ein Pferdezeitalter und jeweils eins davor und eins danach. Das "letzte Jahrhundert der Pferde" war im Grunde das "lange 19. Jahrhundert", das sich von Napoleon bis zum Ersten Weltkrieg erstreckt - auch wenn in den beiden Weltkriegen der Pferdeeinsatz und -verbrauch sich noch einmal brutal steigerte. Kavallerie gegen Panzer, den Untergang der großen "Reiterarmeen" - die russische, die deutsche - skizziert Raulff in seiner absurd tragischen Qualität.

In den Kavalleriewestern von John Ford wird den Reitern mehr Raum gewährt als den Akteuren

Im Grunde aber ist im 20. Jahrhundert die "Entpferdung" (so Isaak Babel) abgeschlossen, die Traktionsenergie, die noch im Verlauf der Industrialisierung zum großen Teil von den Pferden kam, wird nun durch Maschinen und Motoren besorgt. Im großen Panorama zeigt Raulff, wie im 19. Jahrhundert das Pferd das Bild und das Leben der Städte prägte: der Fuhrverkehr, die Droschken und Pferdetrams, die Ställe, der Gestank, die Unfälle, die Erschöpfung der Tiere, die nach wenigen Jahren kaputt waren. Paris, die "Pferdehölle", auch Turin war wohl eine, wo Nietzsche sich der leidenden Kreatur erbarmen wollte. Damals galten die Pferde als Umweltverschmutzer, das Automobil als sauber.

Eine eigene Dynamik entwickelte das Jahrhundert der Pferde in Amerika. Im Bürgerkrieg verlor die Kavallerie wohl an Glamour gegenüber der Infanterie und ihren neuen Feuerwaffen, blieb aber schlagkräftig in den folgenden Indianerkriegen - die Indianer der Great Plains waren ursprünglich gar nicht beritten, passten sich aber den eindringenden Weißen an. Die Vernichtung der Pferdebestände war eine effektive Taktik - schon hier wollte man totalen Krieg. In der Thanksgiving-Nacht 1868 griff der notorische General Custer eine kleine Cheyenne-Gemeinschaft an, löschte den Stamm aus und dann seine Ponys. Der Versuch, sie einzufangen und ihnen die Kehlen durchzuschneiden, misslang, also musste man sie erschießen. Der Mythos einer Reiternation blieb Amerika, beim Leichenzug von Präsident Kennedy noch wurde ein Trauerpferd mitgeführt, gesattelt und mit Stiefeln in den Steigbügeln, nach hinten ausgerichtet, als wäre der Reiter rückwärts drauf gesessen.

Neben der Energie lieferte das Pferd jede Menge "Wissen" und "Pathos", das Ulrich Raulff unermüdlich herbeischafft - manchmal gönnt er sich auch einen sanften Tempowechsel, mit dem über Land zockelnden Landarzt Bovary zum Beispiel, oder der Kutsche, in der seine Frau Emma sich ihrer Liebschaft hingibt. Dazu gibt es die Stammbücher der britischen Adeligen, die wuchtigen Pferdebilder Théodore Géricaults, die nicht minder wuchtigen von Rosa Bonheur, schließlich die Studien, in denen Étienne-Jules Marey und Eadweard Muybridge die Bewegung der Pferde studierten mit ihren fotografischen Serien, die dann das Kino vorwegnahmen. Das Kino selbst bleibt hier leider so gut wie unsichtbar, das sich doch als treuer Pferdenarr erwies - von den Kavalleriewestern John Fords, die den Reitern und Stuntmen - Ben Johnson, Cliff Lyons - mehr Raum gewähren als den Akteuren, bis zu den "Misfits", in denen Clark Gable und Montgomery Clift Mustangs fangen und Marilyn Monroe zusammenbricht, als sie merkt, sie sollen zu Hundefutter werden.

Mit der Zähmung des Pferds fing die menschliche Geschichte an, davon handelt ein letzter Teil, der durchspielt, was wir vom Pferd lernen können - Loslösung vom Boden, Mobilität, eine neues Krieger- und Herrentum. Karl Jaspers, Alfred Weber und Oswald Spengler haben sich Gedanken dazu gemacht, Ulrich Raulff wirft mit seiner klugen Dialektik den ideologischen Ballast ab, der auf ihnen lastet - die Nomaden bedeuten eine neue Freiheit, sind die "natürlichsten Krieger, die je von ökologischen Umständen erzeugt wurden". Und der literarische Großnomade ist Kafka, der eine Miniatur so beginnt: "Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden . . ." Das mikroskopisch kleinste Script zum kürzesten Western der Filmgeschichte, schreibt Ulrich Raulff. Ein galoppierender Satz.

© SZ vom 14.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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