Jahresrückblick: Literatur:Im Ekel steckt viel Kitsch

Charlotte Roche lädt den Leser zu einer Reise in ihre Körperöffnungen ein. Jonathan Littell erkundet das Gehirn eines schwulen SS-Offiziers. Kurzum: ein sehr langweiliges Jahr.

Andrian Kreye

Tabus haben den angenehmen Nebeneffekt, dass sie nicht nur ganze Gesellschaften davon abhalten, Dummheiten zu begehen, sondern auch den Einzelnen vor Dingen schützen, die ekelhaft, grausam oder einfach nur nervtötend sind. Schwer zu sagen, warum es sich die Kunst zur Aufgabe gemacht hat, Tabus zu brechen. Man könnte das ganz verallgemeinernd auf die großen gesellschaftlichen Fortschritte der vergangenen 200 Jahre beziehen, dann hätte man auch schon ein paar Erklärungen. Vor allem die, dass die atonale Musik, die abstrakte Kunst und das freie Theater keineswegs nur dazu dienten, Formen zu zerstören, sondern vor allem dazu, Grenzen zu überschreiten. Und irgendwann in der späteren Mitte des 20. Jahrhunderts war es dann so weit: Die Kunst durfte alles.

Jahresrückblick: Literatur: Autorin Charlotte Roche mit ihrem Buch "Feuchtgebiete."

Autorin Charlotte Roche mit ihrem Buch "Feuchtgebiete."

(Foto: Foto: dpa)

Was ein solch hehres Konzept allerdings mit den Analfissuren der Fernsehmoderatorin Charlotte Roche und den nekrophilen Phantasien von Künstlern wie Gregor Schneider oder Marco Evaristti zu tun haben, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Im Jahre 2008 jedenfalls trieben die Versuche der Kunst und der Literatur, es doch noch einmal mit dem inzwischen so altmodischen Mittel des Tabubruches zu versuchen, Aufmerksamkeit zu erregen, ganz besonders seltsame Blüten. Die beiden erfolgreichsten Versuche waren sicherlich Charlotte Roches Bestseller "Feuchtgebiete" und Gregor Schneiders Pläne, den Tod als Kunstwerk zu inszenieren.

Beide spielten mit jenem Leitmotiv, das viel zu oft mittelmäßiger Kunst zu einer Aura der inhaltlichen Relevanz verhilft - der Gesellschaftskritik. Charlotte Roches Buch zu lesen war ungefähr so vergnüglich wie ein Wochenende in der Unfallpathologie. Seite um Seite beschrieb sie Körperfunktionen, schrullige Phantasien und intime Verletzungen mit einer Fabulierlust, die darüber hinwegtäuschte, dass es weder einen Handlungsstrang noch eine Sinnebene gab. Das reichte, um ihr den Ruf einzutragen, sie rüttle da an vorgefassten Geschlechterrollen und dem verklemmten Umgang mit der Sexualität.

Und doch war es eine Provokation um ihrer selbst willen, der man weder eine erzählerische Funktion noch ein gesellschaftliches Motiv nachsagen konnte. Gregor Schneider wiederum verkündete, er suche einen Freiwilligen, der im Rahmen seines Kunstprojektes öffentlich sterben würde. Damit wolle er in die tabuisierte Debatte eingreifen, wie man in der modernen Gesellschaft würdig sterben kann.

Aber auch im Ausland mühten sich die Künste und Literaturen um einen endgültig letztgültigen Tabubruch. In Amerika verkündet die Kunststudentin Aliza Shvarts, sie habe sich für ihre Abschlussarbeit an der Universität Yale mehrere Male künstlich befruchten lassen und dann mit Hilfe von Medikamenten abgetrieben. Das angeblich abgegangene Blut und Gewebe wollte sie in einer Ausstellung zeigen. Im gesamten Europa feierte Jonathan Littell furiose Erfolge mit seinem Roman "Die Wohlgesinnten", den der SZ-Kritiker Thomas Steinfeld schlicht als Pornographie beschrieb, die dem Kriege gilt. Doch dem nicht genug - es reichte ja nicht, dass Littells Hauptfigur Max Aue ein mörderischer SS-Offizier war, es musste schon ein schwuler mörderischer SS-Offizier sein. Auch Schneiders Todeswerk erfuhr noch eine Steigerung.

Da reichte es dem amerikanischen Künstler Marco Evaristti nicht, das Sterben eines Menschen in ein Kunstwerk einzubinden. Im Spätsommer verkündete er, er werde den 21-jährigen, zum Tode Verurteilten Gene Hathorne nach seiner Hinrichtung zu Fischfutter verarbeiten und ihn dann an Goldfische verfüttern. Nun spielte die Kunst schon immer mit dem Motiv des Todes und des Eros. Mit einem entscheidenden Unterschied. Heute bewegt sich die Kunst in einem ganz anderen Kontext. Die Avantgarde des 20. Jahrhunderts musste sich noch neue Freiräume erobern, während die Kunst zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem provoziert. So bewegte sich Arnold Schönberg noch in einem Umfeld, das die Grenzen der Kunst und der Gesellschaft nach den engen Maßstäben des 19. Jahrhunderts festlegte, als er ab 1921 mit der Zwölftonmusik die bisherigen Hörgewohnheiten in Frage stellte.

Das gleiche gilt für den Franzosen Marcel Duchamp, der Alltagsgegenstände zu Kunst erklärte und dabei ein Urinal zu einer Skulptur umfunktionierte. Das rüttelte an gesellschaftlichen Normen, die es heute in dieser strengen Form nicht mehr gibt. Heute existiert Kunst dagegen in einer Medienlandschaft, die innerhalb kürzester Zeit jede neue Form der Avantgarde vereinnahmt, um damit die Reiz- und Hemmschwellen eines Massenpublikums zu erreichen. Als der amerikanische Bildhauer Jeff Koons 1990 gemeinsam mit der italienischen Pornodarstellerin Ilona "Cicciolina" Staller.

Doch selbst nach allen formalen Tabubrüchen des 20. Jahrhunderts, nach der abstrakten Kunst und dem Free Jazz, dem Wiener Aktionismus und dem Avantgardefilm gab es immer noch eine Grenze für die Kunst. Wenn die Ästhetik zum Selbstzweck wurde, wenn sich die Künstler weder mit Form noch Inhalt auseinandersetzten, dann handelte es sich immer um Kitsch. So wird man auch all die bemühten Versuche dieses Jahres, doch noch irgendein Tabu mit der Kunst zu brechen, später einmal als grandiosen Kitsch betrachten.

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