50 Jahre Everest-Besteigung:Die Zweiten werden die Ersten sein

Vor fünfzig Jahren erschien die Sonderbeilage der Londoner Times mit einer einzigen Photographie auf dem Titelblatt: Ein dick vermummter Mensch steht auf einer schneebedeckten Kuppe, kein Detail des Bildes lässt erkennen, wo er sich befindet. Nur die Unterschrift - "On the Summit" - gibt dem Bild Bedeutung: Der Mensch steht am höchsten Punkt der Erde.

MICHAEL OTT

(SZ v. 28.05.2003) - Als die britischen Kolonialbeamten in dem unzugänglichen Gebirgsbogen, der sich nördlich des indischen Subkontinents erstreckt, den riesigen Berggipfel zum ersten Mal aus der Ferne erblickten, hielten sie ihn für einen Vulkan: Wenn er aus den Wolken sah, die sein Haupt meist verhüllten, wehte von seiner Spitze eine weißlich flimmernde Fahne. Erst später sah man, dass sie nicht aus Asche und Rauch, sondern aus Schnee- und Eiskristallen bestand. Und doch war der erste Eindruck nicht falsch: Der Mount Everest ist ein Vulkan. Er spuckt Bilder aus - Fluten von Bildern aus eisiger Höhe.

Tenzing Norgay

29. Mai 1953, Tenzing Norgay, fotografiert von Edmund Hillary - am höchsten Punkt der Erde. Vor ihnen waren Tom Bourdillon und Charles Evans auf dem Südgipfel nur hundert Höhenmeter unter dem höchsten Punkt zur Umkehr gezwungen gewesen, ehe kurz darauf Hillary-Tenzing als das zweite Team ihre Chance bekamen.

Die erste größere Eruption ereignete sich im Sommer vor fünfzig Jahren. Die Sonderbeilage der Londoner Times vom Juli 1953 erschien mit einer einzigen Photographie auf dem Titelblatt: Ein dick vermummter Mensch hält einen Eispickel in die Höhe; er steht auf einer schneebedeckten Kuppe, den linken Fuß leicht erhöht, über ihm nichts als dunkler Himmel. Kein Detail des Bildes lässt erkennen, wo er sich befindet - es könnte ein arktischer Eisberg oder ein salzverkrusteter fremder Planet sein. Nur die Unterschrift - "On the Summit" - gab dem Bild Bedeutung: Der Mensch steht am höchsten Punkt der Erde.

Seit jener Photographie des Sherpas Tenzing Norgay, aufgenommen von Edmund Hillary am 29. Mai 1953 um halb zwölf Uhr vormittags 8850 Meter über dem Meer, hat der Everest nicht aufgehört, Bilder zu produzieren. Was der Abschluss einer Jahrzehnte währenden Geschichte von Eroberungsversuchen zu sein schien, war erst ihr Anfang. Und mit den neuen, immer stärkeren Eruptionen erreichen uns dieser Tage wahre Geröllhalden alter Ausbrüche, selbst im ZDF zu Sendezeiten, wo sonst Hitlers Helfer oder Hunde portraitiert werden. Mit Photographien vom Everest könnte man heute seine Flanken zutapezieren.

Aber warum? Die Geschichte des Alpinismus - eine kleine, aber wichtige Parallelgeschichte des Heroismus im bürgerlichen Zeitalter - war zwar immer eine Geschichte von Bildern, und sei es nur der Imagination unbegrenzter Aussicht. Doch der Everest ist inzwischen ein derart "natürliches" selbstgenerierendes Bildersystem, dass man ihn auch im Sinn von Roland Barthes einen Mythos nennen muss. Doch wie konnte aus einem eher unspektakulären Vorgang - zwei Männer kauern eine Viertelstunde lang auf einer unwirtlichen Schneeplattform von Billardtischgröße und essen Pfefferminzplätzchen - eine Sensation werden, deren Nachricht bei der Thronbesteigung von Elisabeth II. wie eine Bombe einschlug? Und warum frieren sich zur Feier dieses historischen Datums vierzig Expeditionen die Zehen ab?

Die Antwort liegt nahe: Weil der Everest einfach der höchste ist. "Wo sich die Schatten niemals niederlassen, / von andern Bergen, dahin, dort empor / zieht mich der wilden Sehnsucht Schmerz und Lust", hatte Francesco Petrarca im 14. Jahrhundert geschrieben. In dieser Suche nach dem höchsten der Superlative hatte der Mount Everest die Felsnase oben: Er liegt über allen Gipfeln. Damit wurde seine Besteigung aber, so knochenhart körperlich sie war, sofort zum symbolischen Akt; Tenzing Norgay und Edmund Hillary waren nicht irgendwelche Menschen, sondern der Mensch an dem Gipfelpunkt schlechthin.

Auf die Bilder, die der Everest auswarf, ließ sich die bürgerliche Mythologie des alpinistischen Heroismus folglich besonders gut projizieren. Kameradschaftlich kämpfende Männer vor wilder Bergkulisse; feindliche Natur, deren "Bezwingung" zwar sinnlos, aber dadurch nur umso besserer Ausdruck puritanischer Tugenden ist; Erhabenheit der Bergwelt und Gnade (oder Rache) der Götter - noch jedes derartige Klischee machten die Photographien evident. Und wunderbar passte, dass Hillarys Gipfelbild die ganze Ikonographie des Eroberers aufrief, des kühnen Abenteurers, der mit sicherem Tritt das "jungfräuliche" Neuland in Besitz nimmt und darauf die ziemlich phallische Fahnenstange seines Eispickels pflanzt.

Freilich genügt ein Blick in die Berge von Everest-Bänden, um auf Widersprüche in diesen Geschichten zu stoßen. Schon dass ein Neuseeländer und ein Sherpa die Erstbesteiger waren, gehörte ja nicht ins Programm - eigentlich waren zwei Engländer als Gipfelteam vorgesehen. Doch Tom Bourdillon und Charles Evans waren auf dem Südgipfel nur hundert Höhenmeter unter dem höchsten Punkt zur Umkehr gezwungen gewesen, ehe kurz darauf das zweite Team eine Chance bekam. Und dass dann mit Tenzing Norgay ein Sherpa, also einer jener zu Trag eseln degradierten, damals in den Heldenerzählungen meist namenlosen Einheimischen, der erste am höchsten Punkt der Erde photographierte Mensch war, stieß wohl so manchem britischen Sahib bitter auf. Aber Tenzing konnte nicht photographieren: Ironie der Repräsentationsmacht.

Als Funktion dieser Macht könnte man fast die ganze Geschichte des Everest seit jenem Tag vor fünfzig Jahren schreiben. Zum Beispiel über jenes chinesisch-tibetanische Team, dem 1960 erstmals die Besteigung von Norden her glückte, das aber im Dunkeln oben ankam: Daher fehlten Beweisfotos, und die Besteigung wurde lange angezweifelt. Mit dieser Macht zu tun hat auch der rätselhafte Zwang, den unvergleichlichen Augenblick des Betretens des Gipfels sofort photographisch bezeugen und verdoppeln zu müssen - als gäbe es anders das Ereignis gar nicht. Die Mischung aus Euphorie und geistiger Leere ins Bild zu fassen, von der viele Everest-Besteiger immer wieder sprachen, blieb allerdings unmöglich; so unmöglich wie die Dokumentation der Sehnsucht.

Sie zeigt sich wohl eher in den Geschichten des Scheiterns, von denen es nur verspätete Bilder gibt. So in jener von George Mallory, des berühmten englischen Kletterers, der auf seiner dritten Everest-Expedition 1924 ("Weil er da ist!") zusammen mit Andrew Irvine am Gipfelgrat im Nebel verschwand und nie zurückkam. 1999 fand eine Suchexpedition seine Leiche in über 8000 Metern Höhe - inmitten eines Friedhofs anderer Verunglückter, die sich dort in einer Art "Auffangbecken" sammelten. Die Identifikation war leicht, da Mallory als einziger kein buntes Gore-Tex trug. Der weiß marmorierte Leichnam war durch die Kälte konserviert worden; man fand Briefe, den Kompass, die Schneebrille bei ihm; nur Mallorys Kamera, von der man sich Aufschluss erhofft hatte, ob er vor oder nach der Bezwingung des Everest abgestürzt war, fand man nicht.

Dafür gingen nun die Bilder der Leiche um die Welt und lösten Empörung aus. Freilich, die Aufregung darüber, wie über die Kommerzialisierung des Everest- Tourismus, dank derer Zahnärzte für Zehntausende Dollars auf präparierten Pisten zum Gipfel geschleppt werden, oder über Katastrophen wie jene von 1996, untermauerten wider Willen den Everest-Mythos nur noch fester; und auch dies natürlich mit Bildern. Allein seit 1998 sind mehr Menschen auf den Gipfel gestiegen als in allen Jahrzehnten vorher; 2001 waren es an einem einzigen Tag neunundachtzig. Und ausnahmslos alle - man möchte darauf wetten - hatten irgendeine Form von Kamera dabei.

Keine Kamera dabei hatte dagegen Petrarca bei seiner Besteigung des Mont Ventoux im April 1336, dafür aber das Leitmedium einer vergangenen Epoche - ein Buch. Als er die Bekenntnisse des Augustinus, ein Bändchen "allwinzigsten Formats, aber unbegrenzter Süße voll", aufschlug, um seinem Bruder daraus vorzulesen, stieß Petrarca auf eine Stelle, für die Jubiläen irrelevant sind: "Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans, und haben nicht acht ihrer selbst." Man muss statt "bestaunen" nur "photographieren" einsetzen, um in der Gegenwart anzulangen: Vorige Woche gab es die erste TV-Live-Übertragung vom Everestgipfel durch ein Team des Chinesischen Fernsehens.

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