25 Jahre Deutscher Herbst:Otto, jetzt werden Sie berühmt

Noch immer wird behauptet, Otto Schily habe als Anwalt von Gudrun Ensslin einen Kassiber geschmuggelt: Uwe Wesel, der ihn 1972/73 vertrat, hat damals recherchiert, wie es wirklich war

FRANZISKA AUGSTEIN

Sie hat dann ihre Haut abgestreift, die lederne, etwas unförmige, die rabiat an ihr hatte wirken sollen. Und diese Haut hat sie einfach liegen gelassen, inmitten von anderen Schalen und Schutzhüllen.

25 Jahre Deutscher Herbst: undefined
(Foto: SZ v. 17.10.2002)

Zusammen mit ihrer Lederjacke hatte Gudrun Ensslin aber auch ihre Waffe in der Hamburger Boutique vergessen: ihre Pistole, die sich in der Jackentasche befand und die von der Besitzerin des Ladens gefunden wurde, kaum dass die unentschlossene Kundin das Geschäft verlassen hatte. Die Besitzerin hat die Polizei gerufen. Die Schlange war gefasst.

Uwe Wesel, Rechtsprofessor und damals Vizepräsident der Freien Universität Berlin, vermutet hinter dieser selbstvergessenen Schlampigkeit der Gudrun Ensslin eine Absicht: Sie habe es, sagt er, darauf angelegt, verhaftet zu werden.

Als Professor, der zudem einige wenige Jahre zu alt war, um ein Achtundsechziger zu sein, hat Wesel als teilnehmender Zuschauer miterlebt, wie die APO tobte und zerfiel und wie dann - Dank der tätigen Mithilfe eines auf Deeskalation nicht bedachten Staates - die RAF entstand. An der Geschichte, die sich da entspann, ist Wesel selbst hier und da beteiligt gewesen. Eines Sonntag Abends im Juni 1972 zum Beispiel stand ein aufgelöster, bleicher Otto Schily bei ihm in der Tür: "Uwe, Sie müssen mich vertreten", habe Schily gesagt, "ich werde wahrscheinlich morgen verhaftet."

Bis zum heutigen Tag gibt es Leute, die behaupten, Otto Schily, der Strafverteidiger von Gudrun Ensslin, habe seiner Mandantin dabei geholfen, einen Kassiber zu Ulrike Meinhof zu schmuggeln.

Noch bevor die Vollzugsbeamtinnen überhaupt alle einvernommen und vereidigt waren, die zu Gudrun Ensslin Zutritt hatten, stand das für die Ermittlungsrichter am Bundesgericht und die Bundesanwaltschaft so gut wie fest: Sie legten es darauf an, den exzellenten Anwalt loszuwerden. So sah das sehr bald die Berliner Anwaltskammer, und so sah das an jenem Sonntag Abend auch Uwe Wesel. Als Lehrer der Jurisprudenz an einer deutschen Hochschule durfte er als Verteidiger vor Gericht fungieren. Wesel glaubt, es möge nicht zuletzt Schilys Sinn für Dekorum gewesen sein, der ihn bewog, sich einen Hochschulprofessor als Rechtsbeistand zu wählen.

Ungleich waren die Vorstellungen, die beide Herren an jenem Abend von der Zukunft hatten: "Otto sah sich am Ende seiner Karriere", erzählt Wesel. Er selbst hingegen, der als Vizepräsident der Universität auch schon angeeckt war, beschied den bangen Freund verwegen: "Otto, jetzt werden Sie berühmt."

Es gibt Geschichten, die gewinnen mit der Zeit an Kontur - der Deutsche Herbst war so reich an juristischen Possen, dass noch nicht jede trübe Episode ausgefischt werden konnte. Auch deshalb hat Uwe Wesel die Geschichte vom Kassiber bisher nicht erzählt.

Das Ermittlungsverfahren gegen Otto Schily "wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung" erbrachte nichts und war umgehend beendet. Selbst die befürchtete Durchsuchung von Schilys Büro unterblieb. Später sollte sich zeigen, warum: Gudrun Ensslin hatte keine Schreibmaschine in ihrer Zelle, anstatt nun aber das Gerät, auf dem das Papier abgetippt worden war, in Schilys Büro zu suchen, ließen die Ermittler sich von allen Gerichten des Landes Schriftsätze von Otto Schily geben: Es fanden sich jedoch keine Typen darunter, die zu denen des Kassibers passten.

Derweil war Schily - per Beschluss vom 17. Juni 1972 und ohne auch nur angehört zu werden - von der Verteidigung Gudrun Ensslins ausgeschlossen worden. Dagegen legten er und Wesel beim 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes Beschwerde ein, die jedoch abgelehnt wurde. Also wandten sie sich an das Bundesverfassungsgericht: Der Ausschluss eines Verteidigers ist ein Eingriff in die Berufsfreiheit, dafür braucht man eine gesetzliche Grundlage, die gab es damals noch nicht. Gleichzeitig versuchte Wesel herauszufinden, was es mit dem Kassiber auf sich hatte, von dem er zunächst annahm, er sei vom BKA gefälscht und Ulrike Meinhof untergejubelt worden.

Wesel zog einen Linguisten zu Rat: Die engbeschriebenen Schreibmaschinenseiten des verschlüsselten Kassibers, so befand dieser, seien von einem "unglaublich gewandten Geist" abgefasst worden. Da hieß es zum Beispiel: "2 Monate, in denen ihr nichts tut als die Struktur reparieren mit d. Kleinen und d. Ehemann wäre schon 1 Schritt, ein guter, Zelte stabilisieren mit größter Mühe und Sorgfalt, nicht locker lassen, bei den Mietern, verlangen, kontrollieren." So geht es fort: Der Text enthält 78 Befehle; mit vier Ausnahmen sind diese indes allesamt indirekt formuliert. 28 verschiedene Imperativ-Konstruktionen hat der Linguist damals gefunden. Eine Fälschung, schloss er, wäre sehr viel stereotyper ausgefallen. Schilys Mandantin, die intelligente Pastorentochter, müsse die Autorin sein.

Das war nichts, was Wesel hätte helfen können. Er suchte also weiter. Über einen in Essen ansässigen Strafverteidiger nahm er Kontakt auf zu Kennern der Szene in dem Essener Frauengefängnis, wo Gudrun Ensslin damals einsaß.

Eine Justizvollzugsanstalt, sagt Wesel, "ist ein ganz enger, kleiner Biotop, wo jeder alles weiß". Zutritt zu den Zellen der Gefangenen hatten, wie sich zeigte, nicht nur die Vollzugsbeamtinnen (die natürlich allesamt längst ausgesagt hatten, mit dem Kassiber nichts zu tun zu haben). So gab es beispielsweise einen Wirtschaftskriminellen, der in der Anstalt elektrische Arbeiten verrichtet hatte und den Gefangenen "gegen irgendwelche Gefälligkeiten", die Wesel als "sehr zweideutig" beschrieben wurden, hier und da behilflich gewesen war.

Mittels dieses Mannes (der dann "gar keinen so schlechten Eindruck" gemacht habe) und dank des Essener Anwalts gelang es Wesel, der Reise des Kassibers auf die Spur zu kommen: Sie führte ihn bis zu einer Gärtnerei in der Nähe von Essen, wo offenbar ein Sympathisant der RAF beschäftigt war. Allmählich schienen die Recherchen sich zu einem Bild zu fügen: Ein Gärtner musste den Kassiber von Gudrun Ensslin abgeschrieben haben. So erklärten sich auch die vielen Tippfehler, "Symphatisanten" etwa. Später waren Wesel und der hilfreiche Essener Anwalt sich einig: Keine vier Tage länger, und sie hätten gewusst, wer den Kassiber aus dem Gefängnis zu der Gärtnerei gebracht hatte.

Aber da wurden sie geheißen, die Recherche abzubrechen: Otto Schily wandte sich gegen eine Fortsetzung der Untersuchung: Man möge sich lieber auf das demnächst erwartete Urteil des Bundesverfassungsgerichts verlassen. "Schily wollte die Aufdeckung nicht", sagt Wesel: Damit hätte man nicht nur die Kalfaktorin oder Aufseherin mit hineingezogen, die den Kassiber weitergeschmuggelt hatte, es wäre auch ein Indiz dafür gewesen, dass Gudrun Ensslin noch vom Gefängnis aus als Chefin der RAF auftrat. Wollte Schily seiner Mandantin nicht schweren Schaden zufügen, musste er sich auf andere Weise das Recht erstreiten, weiterhin ihr Verteidiger zu sein.

Bereits im Februar 1973 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, und zwar nach rein formalen Gesichtspunkten. Die Strafprozessordnung, so erklärte das Gericht, bot keine Grundlage dafür, einen Verteidiger auszuschließen, der im Verdacht stand, die Straftaten seines Mandanten zu unterstützen. De facto war das zwar in der Weimarer Republik und auch nach 1945 schon Grund für einen Ausschluss gewesen, doch hatte Schilys guter Leumund, wie Wesel vermutet, sich bis nach Karlsruhe herumgesprochen, weshalb man sich dort mit dem formalen Argument zufrieden gegeben habe. Diese juristische Lücke hat der Bundestag 1974 geschlossen. Das Gesetz wurde als "Lex Baader-Meinhof" bekannt. Es war Teil der Terroristengesetzgebung, wenn auch kein anstößiger. Andere Gesetze waren weniger sinnvoll. Bemerkenswerterweise hat Schily auch an denen nicht gerüttelt. Es gehört zu den Geheimnissen des Innenministers, warum er keines der Gesetze revidierte, die sich zu seiner Zeit als Anwalt mit seinem rechtsstaatlichen Verständnis so schlecht vertrugen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: