Jack-The-Ripper-Comic:Tyrannei der Muttermilch

Stets waren seine Opfer Frauen und stets waren sie grausam verstümmelt. Wer war Jack The Ripper? Der Comic "From Hell" probiert eine Antwort. Die Bilder.

Christoph Haas

7 Bilder

From Hell

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Wer war Jack the Ripper? Unglaublich lebendig und dokumentarisch genau nähern sich Alan Moore und Eddie Campbell in ihrem Comic "From Hell" einer Antwort in Bildern.

Fünf Mal schlägt er im Herbst 1888 zu. Sein Revier ist das Whitechapel-Viertel im bitterarmen Osten Londons. Stets sind seine Opfer Frauen, und stets werden sie erst erwürgt, dann auf grausamste Weise verstümmelt. Die Polizei ermittelt auf Hochtouren. Falsche Selbstbezichtigungsschreiben gehen stapelweise ein. Die Medien überschlagen sich. Gerüchte gehen um: Hohen, sogar höchsten gesellschaftlichen Kreisen soll der Täter angehören. Gefasst wird er nie. Noch heute aber kennt jeder den klangvoll-schauerlichen Namen, den man ihm damals verlieh: Jack the Ripper.

Text: SZ vom 28.1.2009/Christoph Haas

Fotos: Alle Abbildungen stammen aus dem besprochenen Band

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Wer war dieser Mann? Zahlreiche Sachbücher geben vor, die Antwort zu kennen. Aufsehen erregte zuletzt die amerikanische Kriminalautorin Patricia Cornwell, die vor sieben Jahren, auf vage Indizien gestützt, verkündete, der für seine morbiden Sujets berüchtigte Maler Walter Sickert stecke hinter den Morden. Der erste Beitrag der populären Kultur zum Fall war 1913 der Roman "The Lodger" von Marie Belloc Lowndes, mit dessen Verfilmung der junge Alfred Hitchcock 1927 seinen ersten Erfolg als Thriller-Regisseur feiern konnte. Durch den Ripper-Rummel des Jahres 1988 wurde der englische Comic-Autor Alan Moore, bekannt durch seine revisionistische Superhelden-Saga "Watchmen", auf das Thema aufmerksam. In Zusammenarbeit mit dem Zeichner Eddie Campbell entstand "From Hell"; die schrittweise Veröffentlichung dauerte von 1991 bis 1998. Auf deutsch war das 600 Seiten starke Werk einige Zeit vergriffen. Jetzt liegt es in einem brockhausschweren Band wieder vor - und begeistert wie am ersten Tag.

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"From Hell" beginnt mit einer Mesalliance. Durch Vermittlung Walter Sickerts lernt 1884 Prinz Eddy, der lebenslustige Enkel der Queen, die Süßigkeitenverkäuferin Annie Crook kennen. Sie verlieben sich ineinander, bekommen eine Tochter, heiraten sogar heimlich. Als Victoria davon erfährt, lässt sie das Paar gewaltsam trennen. Annie verschwindet im Irrenhaus. Die Prostituierte Marie Kelly und vier ihrer Kolleginnen wissen aber von der Affäre. Als sie, von einer Schutzgeldbande drangsaliert, dringend Geld benötigen, drohen sie Sickert, an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Maler wendet sich an das Königshaus, und Victoria beschließt, die Sache gründlich zu bereinigen. Sir William Gull, ihr Leibarzt, erhält den Auftrag, mit Unterstützung des Kutschers John Netley die Frauen, die den Thron ins Wanken bringen können, aufzuspüren und zu töten.

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Dass Gull sich dazu sofort bereit erklärt, liegt einerseits an seiner Treue zur Königin. Andererseits hat er Überzeugungen und Absichten, die darüber weit hinausgehen. Auf einer langen Fahrt klärt er Netley über die Fundamente Londons in Mythos und Geschichte auf. Mit dem Sieg der römischen Besatzer über die sagenhafte englische Königin Boadicea war der Sieg des Patriarchats über das Matriarchat verbunden. Überall in der Stadt erblickt Gull Monumente, die dieses Machtverhältnis widerspiegeln. Auf einer Karte verbindet er sie mit Strichen - und siehe da: ein Pentagramm entsteht, dessen Aufgabe es ist, die Mächte des Weiblichen zu bannen. Gull aber fürchtet, dass dies nicht mehr lange gelingen werde: "Unsere Suffragetten fordern Frauenwahlrecht, wollen Gleichheit! Sie werfen uns zurück ins Kinderzimmer, unter die Regierung des Instinkts, die Tyrannei der Muttermilch. Das können wir nicht dulden." Um die geheimen "Linien von Kraft und Bedeutung" zu verstärken, müssen also Opfer gebracht werden, und Gull weiß kein Besseres als die Nachfahren der Tempeldirnen antiker Göttinnen. Soweit Moore als Lösung des Whitechapel-Rätsels eine Verschwörung, die von den Royals ausging, vorschlägt, orientiert er sich vor allem an einem 1976 erschienenen Buch des britischen Journalisten Stephen Knight, das den zumindest für deutsche Leser etwas merkwürdigen Titel "Jack the Ripper - The Final Solution" trägt.

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Dennoch ist "From Hell" mehr als eine Illustration der dort vorgetragenen waghalsigen Thesen. Moore hat die gesamte Ripper-Literatur gesichtet und für den Comic zudem aus zahlreichen Quellen zur Geschichte Englands und seiner Hauptstadt geschöpft. Von der mehr oder minder obskuren Sachbuch-Literatur zu seinem Thema unterscheidet er sich dadurch, dass er keineswegs behauptet, die Wahrheit zu erzählen - allenfalls eine vielleicht mögliche Wahrheit. Deutlich wird dies im umfangreichen, außerordentlich faszinierenden Anhang, den man unbedingt parallel zum Comic lesen sollte. Hier weist Moore mehrfach darauf hin, lediglich mit "spekulativen Antworten" aufwarten zu können oder eine Szene "gewissen Annehmlichkeiten der Fiktion" gemäß gestaltet zu haben.Ein sehr hoher Berg aus Papier hat für diesen Comic gekreißt, und man könnte fürchten, ihn bei der Lektüre immer noch rascheln zu hören. Dies ist aber keineswegs der Fall, denn Moore ist mehr als ein begabter Szenarist: Er ist ein Demiurg, ein Art Balzac des Comics. Mindestens ebenso wichtig wie der Ripper sind ihm dessen Opfer. Ihnen gilt in erkennbarer Weise seine Sympathie. Das lässt sich schon in der den realen Vorbildern treuen Art, in der sie gezeichnet sind, erkennen: "Die Frauen", erläutert Moore, "waren weder die zügellosen, liederlichen Schönheiten, als die sie in den eher reißerischen Ripper-Filmen dargestellt werden, noch die entstellten, zahnlosen Hexen, als die einige Autoren sie dargestellt haben."

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Marie, Kate, Liz, Annie und Polly sind ganz gewöhnliche Unterschichtsfrauen ihrer Zeit. Sie haben Männer, Kinder, Liebhaber und verdienen sich ihr Geld auch bei der Hopfenernte oder mit der Pflege eines kranken Nachbarn. Auf den Strich gehen sie mitunter nur, um sich für die Nacht eine elende Schlafstätte leisten zu können. Unglaublich lebendig ist das alles geschildert, aber auch mit einer bis in Details dokumentarischen Genauigkeit. Moore wäre allerdings nicht Moore, wenn es dabei bleiben würde. Zum schwungvollen Schauerstück und zum sozialen Realismus kommen noch die metaphysische Spekulation und die Kulturkritik. Mehrfach wird auf die Schrift "Was ist die vierte Dimension?" rekurriert, in der Howard Hinton, der Sohn eines Freundes von William Gull, 1884 die Idee vertrat, dass die Zeit nicht verläuft, sondern "im gewaltigen Ganzen der Ewigkeit koexistiert". Dazu passt, dass für Moore die an Entdeckungen, Erfindungen und politischen Turbulenzen reichen 1880er "die Essenz des 20. Jahrhunderts verkörpern". Daher wird in einer Szene die Zeugung Hitlers gezeigt; daher wird Gull immer wieder von Visionen heimgesucht, die ihm das aktuelle London zeigen: Hochhäuser, Menschen in Großraumbüros und vor dem Fernseher. Die Whitechapel-Morde erscheinen in "From Hell" als der wahre Auftakt der Moderne. Das kann man als etwas überzogen empfinden, als Ausfluss einer allzu extensiven Beschäftigung mit einem Thema. In einem Punkt hat Moore aber zweifellos recht: Die heillose Mischung von Wahn und Rationalität, die er seiner Gull-Figur zuschreibt, lässt sich, ins Politische gewendet, auch hinter den Genoziden des "Zeitalters der Extreme" ausmachen.

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Und die Zeichnungen? Blättert man von "From Hell" durch, entsteht der Eindruck, dass Eddie Campbell seine Aufgabe primär darin gesehen hat, den Leser nicht vom Verständnis des komplizierten Szenarios abzulenken. Bei genauerem Hinschauen wird aber deutlich, dass er auf subtile Weise eigene Akzente setzt. Wenn Sickert die Frau von Prinz Eddy um Hilfe anfleht, ist die melodramatische Szene in sehr kleinen, randlosen Panels festgehalten, die den Vignetten gleichen, mit denen die Unterhaltungsromane der damaligen Zeit illustriert waren. An anderen Stellen führt Campbell vor, welche Möglichkeiten in der graphischen Reduktion stecken: Wenn Gull beauftragt wird, Annie aus dem Weg zu schaffen, zeigen sieben Panels hintereinander dasselbe Bild der wie versteinert dasitzenden Victoria. Im achten Panel dann wendet sie plötzlich ihren Blick dem Betrachter zu - und der spürt mit ungeheurer Wucht den mühsam unterdrückten königlichen Zorn. Die dichten Schraffuren, mit denen Campbell gerne arbeitet, erinnern mitunter an Paul Flora; auf naheliegende Gothic Horror-Effekte verzichtet er fast völlig. In seiner "Princeton-Rede" hat Thomas Mann unbescheiden, aber zu Recht gefordert, man möge den "Zauberberg" bitte zwei Mal lesen, um sich ein Urteil erlauben zu können. Im Falle von "From Hell" dürfen es gerne drei Durchgänge sein: zwei, um die immense inhaltliche Vielfalt zu erschließen; eine dritte, um die herrlichen Bilder genauer wahrzunehmen. Wenn es den Begriff der Graphic Novel nicht schon gäbe, für dieses gewaltige Werk verdiente er erfunden zu werden.

ALAN MOORE (Text), EDDIE CAMPBELL (Zeichnungen): From Hell. Ein Melodrama in sechzehn Teilen. Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff. Cross Cult Verlag, Asperg 2008. 604 Seiten, 49,80 Euro.

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