Italiens Unis:Im Reformhaus

Eine italienische Stadt - Bologna - hat der europäischen Studienreform den Namen gegeben. Das klingt wie eine bittere Pointe, angesichts der Krise der akademischen Kultur Italiens.

Von Gustav Seibt

In Deutschland wird viel und überzeugend über die verkorkste Universitätspolitik der letzten anderthalb Jahrzehnte geklagt, über das "Reformhaus" (Jürgen Kaube) mit seinen verschulten Studiengängen, monströsen Antragsschlachten um "Exzellenz", einer wissenschaftlichen Überproduktion, die mit "diskursiven Klingeltönen" (Kaube) auf sich aufmerksam machen muss.

Dass das Gras in Italien keineswegs grüner ist, zeigt jetzt ein äußerst detaillierter Einblick, den der Historiker Christoph Dipper in der jüngsten Ausgabe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte ("Die italienische Zeitgeschichtsforschung. Eine Momentaufnahme". Heft 3, 2015, Oldenbourg Verlag, München) bietet. Gewonnen hat er ihn als ausländisches Mitglied der Kommission für die "Abilitazione Nazionale Scientifica", die seit 2010 alle Wissenschaftler, die sich in Italien auf eine Professur bewerben wollen, zuvor evaluiert - ohne das Gütesiegel dieser Kommission geht es nicht. Bewertet werden dabei die Publikationen der Antragsteller, das Zeugnis gilt nur für sechs Jahre und muss, sollte der Bewerber bis dahin keine Stelle haben, erneuert werden. Damit wird eine neuartige Form der Qualitätssicherung jenseits des verbreiteten Klientelismus in politischen und akademischen Seilschaften erprobt.

Dippers Tätigkeit als ausländischer Gutachter (2012/13) ließ ihn mehr als 500 mehr oder weniger jugendliche Kandidaten in seinem Fach, der neuesten Geschichte (seit 1789), erleben. Eingebettet hat Dipper seine Auswertung in einen Rückblick auf die italienischen Universitätsreformen, die von der zentralistischen, aber leistungsorientierten ministeriellen Steuerung der Fünfzigerjahre bis zu den Öffnungen und Aufweichungen seit den Siebzigerjahren führt - eine Phase gewaltiger Expansion mit den auch in Deutschland beklagten Schwankungen bei professionellen Standards. Dipper trägt seine Resultate mit ungewohnter, undiplomatischer Offenheit vor, das Bild ist eher verheerend.

Das liegt natürlich nicht an fehlenden Talenten, gar mangelndem Fleiß. Die schriftliche Produktivität italienischer Historiker ist sogar fühlbar höher als die deutscher Kollegen. Das liege allerdings auch an einem lieblosen, unterfinanzierten Universitätsmilieu mit geringen Lehrbelastungen, das zu vorwiegend häuslicher Arbeit und publizistischem mehr als wissenschaftlichem Ehrgeiz animiert. Interessanter ist das von Deutschland stark abweichende fachliche Profil: wenig Sozial- und Kulturgeschichte, überhaupt wenig neuartige Fragestellungen, dafür sehr viel Politik- und Parteiengeschichte und eine Ideenhistorie, die Dipper immer noch im Bann von Benedetto Croce und Antonio Gramsci, den Vordenkern des frühen 20. Jahrhunderts, sieht. Schockiert ist Dipper von der Vernachlässigung der Kernfragen der Nationalgeschichte zugunsten eines "Lokalismus", der auch mit einer Flut lokaler Preise zu tun hat. Die Massenproduktion erweist sich unter dem strengen Blick Dippers als oft wenig professionalisiert, er rügt fehlende Quellennachweise (dafür gibt es detaillierte Register, die jeden Kollegen schnell erkennen lassen, ob er zitiert wird), Zeitschriften mit anonymisierter Peer-Review sind die Ausnahme.

Als Ursache für die Defizite diagnostiziert Dipper weniger die geringe finanzielle Ausstattung als eine "Krise der akademischen Kultur", die schon bei unzulänglich ausgebildeten Schulabsolventen beginnt. Hochschulautonomie wurde zu Klientelismus, unterstützt von linken Kritikern mit ihrem "manichäische Züge aufweisenden Feldzug gegen Qualitätskontrolle und wissenschaftlichen ,Leistungslohn'". "Strebsame und leistungsfähige Nachwuchswissenschaftler", so schließt Dipper, "sind in persönlichen Gesprächen der Verzweiflung nahe." Dass die verschulten und lieblosen italienischen Studiengänge seit 1999 zu einem der Hauptvorbilder des europäischen Bologna-Prozesses wurden, ist eine Ironie, über die jeder nur bitter lachen konnte, der einmal in Italien studiert hatte.

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