Italien:Das Land der Seele

Am 4. Dezember stimmt Italien über die Verfassungsreform ab - der Protest gegen das Referendum wächst. Ihn speist die Sehnsucht nach Heimat. Sie kommt von links wie von rechts.

Von Thomas Steinfeld

Der scheinbar heiterste Film des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini, die Parabel "Große Vögel, kleine Vögel" aus dem Jahr 1965, erzählt die Geschichte einer langen Exkursion, die ein Vater (gespielt von Totò, dem neapolitanischen Komiker) mit seinem Sohn durch die Peripherie Roms unternimmt. Zu ihnen gesellt sich, hüpfend und wackelnd, ein sprechender Rabe. Doch bald geht der Vogel den beiden Wanderern auf die Nerven. Denn das Tier ist gebildet und kann fliegen. Alle Ereignisse, die nicht zuletzt aus Gründen des moralischen Scheins hätten verborgen bleiben sollen, sind ihm nicht entgangen. Der Rabe sei ja ein "Linksintellektueller", stellen Vater und Sohn empört fest. Bald darauf wird dem Vogel der Hals umgedreht, und es bleiben nur ein paar abgenagte Knochen zurück.

Ein "Linksintellektueller", durchaus im altertümlichen Sinn des Wortes, ist Erri De Luca, geboren und aufgewachsen in Neapel, einst Mitglied der Gruppe "Lotta Continua", seit den Neunzigern einer der bekanntesten Schriftsteller des Landes und gegenwärtig ein entschiedener Gegner der großen Verfassungsreform, die Ministerpräsident Matteo Renzi auf den Weg zu bringen trachtet. An die Verfassung, sagt er, dürfe man nicht rühren. Sie sei "das säkulare Äquivalent eines heiligen Textes". Es gibt viele italienische Schriftsteller und Gelehrte, die so denken. "Die Verfassung ist nicht irgendetwas", erklärt der Kunsthistoriker Salvatore Settis, bis vor einigen Jahren Direktor der "Scuola Normale Superiore" in Pisa, der berühmtesten Universität des Landes, "sie muss alles sein."

Nicht nur Matteo Renzi, auch die EU hätte Italien gerne stabiler und weniger kompliziert

Sie alle treten als Anhänger eines guten, aber nicht realisierten Staates auf, wie er in der Verfassung aufgehoben sei. Zwar ist die italienische Verfassung in den vergangenen Jahrzehnten oft geändert worden. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Denn auf der anderen Seite des "heiligen Textes" sollen die üblichen Schuldigen stehen, also die herrschenden Politiker und deren gesamte Kaste. Am 4. Dezember wird das italienische Volk in einem Referendum darüber abstimmen, ob es eine Reform der Verfassung geben soll. Dabei soll es zuvörderst um eine Stärkung der Exekutive gehen: Das seit siebzig Jahren bestehende Zweikammersystem, in dem das Parlament aus der auf nationaler Ebene gewählten Abgeordnetenkammer ("Camera dei deputati") und dem auf regionaler Ebene gewählten Senat gebildet wird, soll aufgebrochen, der Einfluss des Senats gemindert, das Regieren erleichtert werden. Eine solche Entscheidung wäre sehr im Sinne der Europäischen Union, die Italien gerne stabiler und weniger kompliziert hätte.

Nun verknüpfte aber Matteo Renzi nicht nur sein persönliches Schicksal mit dem Ausgang des Referendums, er verband die Neuordnung des Parlaments mit Veränderungen zum Wahlgesetz wie zur Repräsentation der Regionen - worauf sich das Referendum in eine Abstimmung über alles und jedes verwandelte. Die Konsequenzen eines Scheiterns wären für Renzi und seine Mitte-links-Regierung fatal - um von Aussichten wie Neuwahlen, einem Sieg des basisdemokratischen Movimento 5 Stelle und einer Rückkehr zur Lira gar nicht erst anzufangen.

An dieses Scheitern scheinen sich nun lauter Hoffnungen auf eine Wiedergeburt des Landes aus dem Geist der Ursprünglichkeit und Reinheit zu binden. "Die Demokratie kann nur von unten beginnen", hieß es schon 2008 in einem Manifest Beppe Grillos, des Gründers des Movimento 5 Stelle: "Die neue Renaissance wird ihren Ursprung in den Gemeinden haben." Der Satz gilt noch immer. Und wenn Matteo Salvini, Anführer der zur Lega Nazionale mutierten Lega Nord, die Zukunft des Landes beschreibt, dann gleicht sie der idealisierten Vergangenheit eines engen Zusammenhangs kleiner und mittlerer Unternehmen, in denen findige Geister und starke Arme gemeinsam für den Erfolg von Volk und Nation arbeiten.

Der Movimento 5 Stelle mag ein später Wiedergänger einer kommunitaristischen Linken sein, mitsamt der dazugehörigen Opferromantik. Die völkisch gesinnte, nationalkonservative Lega mag dagegen die Kleinindustrie verherrlichen, als ob alle Gegensätze von Kapital und Arbeit aufgehoben wären, wenn nur beide dem Wohl der Nation dienten. In eine idealisierte Vergangenheit zurückkehren und damit die Geschichte verlassen wollen 5Stelle wie Lega Nazionale.

In den Jahren bevor Italien Mitglied der Währungsunion wurde, hatte das Land sich mit allen Mitteln für einen Wettbewerb gerüstet, der von der Konkurrenz längst beherrscht wurde: Die Löhne sanken ebenso wie die Renten, während die Kosten für die Gesundheitsfürsorge stiegen. Die großen Staatskonzerne wurden aufgelöst, die Subventionen für den Süden weitgehend eingestellt. Aber die Mühen lohnten sich nicht: Italien ist das einzige Land in der Währungsunion, Griechenland eingeschlossen, das heute ärmer ist als im Jahr 1999, an der Wirtschaftsleistung pro Kopf gemessen.

Doch gibt es in Italien kaum eine öffentliche Auseinandersetzung über die Gründe dieses Scheiterns, die nicht in eine Zuweisung von Schuld mündete - also moralisch statt politisch und ökonomisch argumentiert. Fast scheint es, als gäbe es die Konkurrenz der Staaten innerhalb der europäischen Währung nicht, und als wäre der fortschreitende Niedergang der italienischen Industrie nicht das Ergebnis eines direkten Vergleichs mit der Leistungsfähigkeit vor allem der deutschen Wirtschaft. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich diese Verhältnisse ändern: Die Gleichrangigkeit, die Matteo Renzi gegenüber Frankreich und Deutschland beansprucht, ist eine Fiktion.

Bild von Enzo Sellerio

Im Alinari Image Museum in Triest ist derzeit eine Ausstellung mit den interessantesten Arbeiten Enzo Sellerios zu sehen. Diese Fotografie zeigt eine Piazza in der Kleinstadt Polizzi Generosa.

(Foto: Alinari Museum Florenz)

Weil das jeder weiß, geht die Debatte um die Verfassungsreform in einer Weise ins Grundsätzliche, die jeden einzelnen politischen Anlass weit übersteigt: "Es schmerzt mich, Italien in dieser Weise vermindert zu sehen", erklärte Andrea Camilleri, über neunzig Jahre alt und der erfolgreichste italienische Schriftsteller, am vergangenen Wochenende der Tageszeitung La Repubblica. Er mache sich den Vorwurf, nicht entschieden genug am Wiederaufbau des Landes gearbeitet zu haben.

Und Tomaso Montanari, ein Kunsthistoriker, der, erstaunlich genug, im öffentlichen Fernsehen ein nationales Publikum in acht Folgen über den Bildhauer Gian Lorenzo Bernini und den rebellischen Geist des Barock unterrichtet, erklärt in seiner Kampfschrift "Così No" ("So nicht"), Italien sei eine Art neues Troja, wo die Reform der Verfassung wie ein hölzernes Pferd vor dem Tor stehe: Wenn sich die Republik dem Markt und dessen Zentralismus unterwerfe, gebe es keine Bürger mehr, sondern nur noch Händler und Verbraucher.

Die Heimkehr und ihr (manchmal abgewendetes) Scheitern sind traditionell eines der stärksten Motive in der italienischen Literatur. Wenn die Verdammten in Dantes "Inferno" (1321) ihr Schicksal beklagen, treten sie auf, als wären sie aus Raum und Zeit Verbannte, und machen sich Sorgen, was man daheim in Florenz über sie denke. In Alessandro Manzonis Roman "Die Brautleute" (1840/42) ist das Glück in Lecco am Comer See zu Hause. Man erreicht es mit Mühe und Not. Das Werk Cesare Paveses kreist um die Rückkehr in eine Kleinstadt im Piemont, die Heimat sein soll, aber nie eine solche war.

Doch die Geschichte der Sehnsucht, in seine eigenen Verhältnisse zurückkehren zu dürfen, hat eine andere Seite: die der Spanier, Franzosen, Österreicher und aller anderen Mächte, die Italien als ihr Gelände behandelten. Diese Geschichte scheint im Urteil des breiten Publikums nun wiederzukehren, als Reaktion auf eine vermeintlich oder tatsächlich missglückte Karriere Italiens in der Europäischen Union, mit Brüssel - oder alternativ: Berlin, oder dem internationalen Finanzkapital - als beherrschender Macht, wobei, etwa für den italienischen Süden (der wohl hauptsächlich mit "Nein" stimmen wird), auch Rom diese Rolle übernehmen kann.

"Wie sollen wir einer Regierung vertrauen, die Fiat erlaubt, seine Steuern im Ausland zu bezahlen?"

Solche Unterschiede spielen für einen Menschen, der in einer verbreiteten, aber wenig plausiblen Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse von seinem Staat erwartet, besser behandelt zu werden als der Rest der Menschheit, allenfalls eine untergeordnete Rolle. In einem Aufruf zum "Nein", der in der Tageszeitung Il Fatto Quotidiano erschien und unter anderem von Andrea Camilleri, dem Philosophen Paolo Flores d'Arcais und dem ehemaligen Verfassungsrichter Gustavo Zagrebelsky unterzeichnet wurde, heißt es, die Verfassungsreform folge dem Programm, das die amerikanische Geschäftsbank JP Morgan für eine Reform Italiens empfohlen habe:. Und Matteo Renzi sei der Exekutor für den Ausverkauf des Landes: "Wie sollen wir einer Regierung vertrauen . . . , die Fiat (aber auch dem vom Staat kontrollierten Energieunternehmen Eni) erlaubt, die Steuern im Ausland zu zahlen?"

Am Ende zitieren die Unterzeichner den Schriftsteller Riccardo Bacchelli, der in seinem Roman "Die Mühle am Po" (1938/40) schreibt: "Tutti siano padroni in casa propria e uno solo comandi in piazza" - "Alle seien Herren in ihrem eigenen Haus, und nur einer befehle auf der Piazza." So, sagen Andrea Camilleri und seine Kollegen, stellten sie sich die Demokratie nicht vor. Was aber sollte sie sein, wenn nicht eine Ermächtigung?

"In einer Gesellschaft, in der sich alles darum dreht, irgendwohin zu gehören", schreibt der britische, seit Jahrzehnten in Italien lebende Schriftsteller Tim Parks ("Italy: Writing to Belong", New York Review of Books, 12. September 2016), "achten die Menschen mit größter Aufmerksamkeit darauf, wer es wert ist, in eine Familie, Gruppe oder Gemeinschaft aufgenommen zu werden, während der erzwungene Ausschluss zu einer Strafe wird, die droht, den ganzen Sinn des Daseins auszuhöhlen." Die kleinen Verhältnisse scheinen an Bedeutung gewonnen zu haben. Und handelt nicht auch Elena Ferrantes Roman "Meine geniale Freundin" (2016) von der Rückkehr? Mit der Frage "Gibt es Italien noch?" leitete Tomaso Montanari seine Rezension einer großen Monografie ein, in der seine Kollegin Anna Ottani Cavina die Frage nach einem authentischen, italienischen Italien in der Bildkunst zu beantworten suchte ("Terre senz'ombra. L'Italia dipinta", 2015). Auch darin fallen die Antworten regional aus.

Der Filmregisseur und Oscar-Preisträger Roberto Benigni ("Das Leben ist schön", 1997) trug auf einer Veranstaltung der kommunistischen Partei in Rom im Juni 1983 deren populären Vorsitzenden Enrico Berlinguer auf seinen dünnen Armen über die Bühne. Für diese Tat ist er in Italien berühmt. Doch als er im Sommer meinte, ein Scheitern des Referendums werde für Italien schlimmere Folgen haben als der Brexit für Großbritannien , nannte ihn Dario Fo einen "Verräter". Wäre Roberto Benigni ein besserwisserischer Rabe, hätte man ihm den Hals umdrehen können.

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