Israel:Keiner kennt den anderen

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Spannungsfreie Zonen, Irreführungen, Redundanzen - ganz so wie im wahren Leben auch: Dror Mishanis israelischer Inspektor Avraham bekommt seinen ersten Mordfall.

Von Christine Dössel

Auf dem Cover prangt ein Button: "Ein Tel Aviv Krimi". In Zeiten boomender Städte- und Regionalkrimis scheint das als Gütesiegel und Kaufanreiz zu gelten. Dabei hätte dies Dror Mishanis Roman "Die schwere Hand" erstens gar nicht nötig, und zweitens grenzt der stempelhafte Aufdruck an Etikettenschwindel. Denn Mishanis Reihe um den israelischen Inspektor Avraham "Avi" Avraham, deren dritter Band hier vorliegt, spielt eigentlich gar nicht in Tel Aviv. Zentraler Schauplatz ist vielmehr die südlich daran angrenzende Industriestadt Cholon, die als trist und hässlich beschrieben wird und nichts mit der Hipness und dem Lebensgefühl der Lifestyle-Metropole Tel Aviv gemein hat. Wer touristische Hotspots und saftiges Lokalkolorit erwartet: Fehlanzeige. Auch der israelisch-palästinensische Konflikt spielt keine Rolle.

Nein, Dror Mishanis "Die schwere Hand" ist kein Tel Aviv-Krimi und auch kein expliziter Israel-Krimi, sondern eher der überzeugende Beweis dafür, dass auch in der hebräischen Literatur Kriminalromane möglich sind (die gab es lange nicht) und sich darin sogar ganz normaler, banaler Ehe- und Berufsalltag spiegeln kann, unabhängig von der politischen Lage und dem großen "nationalen Projekt" dieses so besonderen Landes. Der Autor unterläuft sogar derart bewusst die gängigen Erwartungshaltungen, dass es gelegentlich zu spannungsfreien Zonen, Irreführung und Redundanzen kommen kann. Wie im realen Leben auch. Diese gilt es auszuhalten und ihnen einen Sinn abzugewinnen. Wie im realen Leben auch.

Dror Mishani, Jahrgang 1975, ist Literaturprofessor in Jerusalem, spezialisiert auf die Geschichte der Kriminalliteratur. Schon als Kind hat er alle Bücher über Sherlock Holmes und Hercule Poirot verschlungen, und später hat er wissenschaftlich untersucht, warum es in seinem Land nichts Vergleichbares gibt. Seit er den Inspektor Avi Avraham erfunden und in Cholon eingesetzt hat, ist Mishani in Israel ein Bestsellerautor. Man muss die ersten beiden Bände "Vermisst" (2013) und "Die Möglichkeit eines Verbrechens" (2015) gar nicht gelesen haben, um schnell mit diesem Avraham vertraut zu werden und zu erkennen, dass er kein Macker, kein Sprücheklopfer, kein Held, ja, nicht einmal ein Charismatiker ist. Sondern eine Figur des absoluten Mittelmaßes. Ein Mann ohne besondere Eigenschaften - mit dem Spezialhobby, Krimis zu lesen oder Serien anzuschauen, um darin Praxis-Fehler und Irrtümer der beschriebenen Detektive auszumachen. Eigentlich ein Langweiler. Aber so kann man sich umso mehr auf die Ermittlungsschritte, Lücken und Irritationen konzentrieren. Auf die alltägliche Banalität, aus der bei Mishani das Böse entspringt.

Wie wichtig es wäre, miteinander zu reden

Im dritten Band bekommt es Avi Avraham mit seinem ersten eigenen Mordfall zu tun. Er wurde gerade zum Leiter des Ermittlungsdezernats Cholon-Ayalon ernannt und weiß eigentlich gar nicht, wie man das macht: einen Mord aufklären. Dass er sich dies - neben allerhand Zweifeln mehr - immer wieder selbst eingesteht, gehört zu den Besonderheiten dieser Geschichte, die auf mehreren Ebenen um das Thema (Mit-)Verantwortung kreist und darum, wie wichtig es wäre, miteinander zu reden. Fast wirkt dieser Ermittler wie eine ausdrückliche Antithese zu den wortkargen Männern der Tat, die das Genre lange geprägt haben. Hier ist der Ton eher weich und suchend: Die Unsicherheiten des Ermittlers; der Fokus auf Ungesagtes, Ungefragtes; die Sensibilität, mit der hier Vermutungen, Ängste, scheinbare Nebensächlichkeiten angedeutet und Dinge auch mal nicht beantwortet werden.

Das Mordopfer ist eine 60-jährige Frau namens Lea Jäger, die erwürgt in ihrer Wohnung aufgefunden wurde. Vor ein paar Jahren war sie das Opfer einer Vergewaltigung. Der Vergewaltiger sitzt hinter Gittern, kann es also nicht gewesen sein. Aber vielleicht seine Verwandten, die fest von seiner Unschuld überzeugt sind? Ein weiterer Verdächtiger ist Lea Jägers Sohn, der nachweislich gelogen hat. Und dann ist da noch dieser ominöse Polizist in Uniform, den ein Nachbar im Treppenhaus gesehen haben will - ein Aspekt, den die Polizeioberen am liebsten unter den Teppich kehren würden. Doch Avraham folgt vor allem dieser Spur, zumal sich bald herausstellt, dass der unbekannte Polizist auch bei anderen Vergewaltigungsopfern aufgekreuzt ist und sie detailliert befragt hat.

Dror Mishani schildert das alles extrem unaufgeregt. Erzählt wird einerseits aus der Perspektive Avrahams, der nicht nur Probleme mit dem Fall hat, sondern auch mit seiner neuen Freundin Marianka, die aus Brüssel zu ihm nach Cholon gezogen ist und dafür ihren Beruf als Polizistin aufgegeben hat. Umgekehrt hört er für sie mit dem Rauchen auf. Erzählt wird aber auch aus der Perspektive einer weiteren Figur, von der man zunächst nicht weiß, inwiefern sie mit der Sache zu tun hat. Es ist die junge Bankangestellte Mali, Mutter zweier Töchter, verheiratet mit Coby, der arbeitslos ist und sich immer seltsamer verhält. Auch Mali ist ein Vergewaltigungsopfer. Vor einigen Jahren wurde sie nachts in einem Hotelzimmer in Eilat überfallen, seither spürt sie immer wieder die "schwere Hand" auf sie zukommen.

Den Glauben, man könne Kriminalfälle restlos aufklären und den Schmerz auslöschen, führt Dror Mishani auch diesmal ad absurdum. Kein Mensch kennt den anderen wirklich. Das muss man aushalten können.

Dror Mishani: Die schwere Hand. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Zsolnay Verlag, Wien 2018. 287 Seiten, 22 Euro. E-Book 16 Euro.

© SZ vom 06.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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