Isländischer Ex-Bürgermeister als Schauspieler:House of Gnarr

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Original und Fälschung, Realität und Fiktion: Das ist der ernste Komiker Jón Gnarr, als er noch echter Bürgermeister von Reykjavik war.

(Foto: Getty Images)

Jón Gnarr erfand nach der isländischen Bankenkrise die "Beste Partei" - und wurde aus Versehen zum Bürgermeister von Reykjavík gewählt. Jetzt spielt er in einer TV-Serie einen unsympathischen Politiker.

Porträt von Alex Rühle

Ein Büro im Rathaus von Reykjavík. Auf dem Besuchersofa sitzen zwei junge Frauen, ihnen gegenüber der Bürgermeister, den sie befragen sollen. Er wirkt nervös und misstrauisch. Gleichzeitig leckt er die Frauen mit seinen Blicken ab. Die Interviewerinnen wurden von der Stadtverwaltung eingestellt, um die Ausgaben zu prüfen. Am Tag zuvor hatte der Bürgermeister diese Maßnahme in einem Interview als seine eigene Idee verkauft, Transparenz ist ja wichtig!

Jetzt also sind die beiden gekommen, um auch ihn zu befragen: "Wie würden Sie Ihren Job beschreiben?" Er lehnt sich mit breitbeiniger Sackkratzerattitüde zurück, zieht die Krawatte gerade und sagt: "Ich bin der Bürgermeister von Reykjavík, so einfach ist das."

Anfangs bemüht er sich um behäbige Souveränität. Als es dann aber um Verwaltungsstrukturen und Ausgaben geht, ist es, als würde ein Polartief in den Raum wehen, mit jeder Frage zieht sich der Bürgermeister tiefer in seinen Anzug zurück. Er, der die beiden gerade noch vertraulich über seine Brille angeblinzelt hatte, nutzt diese Brille jetzt als Blickblocker, der obere Rand des Gestells verdeckt die Augen. Auch wenn man kein Isländisch versteht, weiß man, hier geht es um Schuld und Lügen. Als sie dann fragen, ob er ihnen zu einem Vertrag Auskunft geben könne, springt er auf: "Was soll das? Mein Bruder hat eine winzige Firma. Ich habe nie mit ihm geschäftlich zu tun gehabt."

Er knöpft seine Anzugjacke zu, beschuldigt die Frauen der Verleumdung und eilt aus dem Raum. Kommt zurück. Steht in der Tür, halb verdeckt durch den Rahmen, schaut selbst irritiert, als wisse er nicht wohin mit sich. Aus dem Nebenzimmer ruft eine Frauenstimme: "Cut."

Samstagnachmittag, sechster Drehtag von "Borgarstjórinn", zu deutsch: Bürgermeister. Das Ganze wird eine zehnteilige Fernsehserie über einen korrupten Lokalpolitiker, einen heimlichen Trinker und offenen Macho, einen Mann, der viel von Familie redet, von Werten und Literatur, der aber abends alleine zu Hause rumsitzt und dessen einziges Ziel es ist, einen größeren Dienstwagen zu bekommen. Das Besondere an der Serie ist die Besetzung der Hauptrolle. Der Schauspieler Jón Gnarr war tatsächlich vier Jahre lang Bürgermeister von Reykjavík. Jetzt spielt der Ex-Bürgermeister einen fiktiven Bürgermeister. Im Büro des echten Bürgermeisters.

Sogar der Schreibtisch ist der Schreibtisch, an dem Gnarr vier Jahre lang, von 2010 bis 2014, täglich saß. Damals hing allerdings an der Wand hinter ihm ein Bild des Graffitikünstlers Banksy, das einen Autonomen zeigt, der statt eines Molotowcocktails einen Blumenstrauß wirft. Fast ein Programm: Gnarr kommt aus dem Punk und beschreibt sich selbst als Anarcho-Surrealististen, aber er ist menschenfreundlich wie wenige andere. Sogar seine politischen Feinde, die ihn innig hassten, mussten irgendwann zugeben, dass sich unter ihm der Ton im Stadtrat gebessert habe.

Island sucht einen Premier und einen Präsidenten - aber der beste Mann will nicht mehr

Jetzt hängt hier ein dämliches Porträt an der Wand, der Bürgermeister zu Pferde, vor isländischer Landschaft, Depression in Öl. Daneben ein Foto mit schwerer Amtskette. Und? Wie fühlt es sich an, wieder hier zu sein? "Gar nicht", sagt Gnarr. "Das ist einfach ein Büro." "Vermissen sie die Zeit nicht manchmal?" Er scheint zu erstarren, dann kommt ein heiseres Lachen, das in den Tiefenschichten seiner Seele beginnt und sich dann so langsam wie ansteckend nach oben arbeitet. Er zeigt auf den Schreibtisch. "Ich hatte da drin einen Kalender, auf dem ich jeden Tag einzeln durchgestrichen habe. Als wir noch 1000 Tage vor uns hatten, haben wir das im kleinen Kreis heimlich gefeiert: Nur noch 1000 Tage, dann sind wir wieder frei."

Und warum will er dann jetzt, endlich in Freiheit, einen Bürgermeister spielen? "Weil ich mich als Schauspieler lange mitten in der Politik herumgetrieben habe. Da lernt man viel. Ich wollte das fiktionalisieren. Unser größtes Problem bei den Dreharbeiten ist nur, dass unsere Fiktion hier drinnen in den letzten Wochen überholt wurde - von der Realität da draußen".

"Da draußen" schwimmt Reykjavík im Polarlicht. Mitte Juni, die Tage haben 21 Stunden, die ganze Stadt scheint zu flirren in diesem silberhellen Leuchten. Da draußen ist aber auch gerade tiefdunkle Nacht, seit Sigmundur Davíð Gunnlaugsson dieses grauenhafte Interview gegeben hat.

Gunnlaugsson war der Premierminister von Island. Als ihn zwei Journalisten im April vor laufender Kamera zur Rede stellten, weil sein Name in den Panama Papers auftaucht, leugnete er zunächst, beschimpfte dann die Journalisten und rannte aus dem Raum, ganz ähnlich wie Gnarr in der Szene eben. Kurz zuvor hatte Gunnlaugsson selbst noch die isländische Krone als sicherste Währung der Welt gerühmt und den Leuten erklärt, sie sollten ihr Geld im Land anlegen. Dann kam heraus, dass er selbst sein Geld in Fremdwährungen auf Schwarzgeldkonten anlegt. Gunnlaugson trat zurück, sagte aber am nächsten Tag, er sei gar nicht zurückgetreten, sondern übergebe die Regierungsgeschäfte nur vorübergehend an seinen Freund, den Fischereiminister. Heimlich ging er zu Ólafur Ragnar Grímsson, dem Präsidenten des Landes, und bat ihn, das Parlament aufzulösen. Grímsson weigerte sich.

Das war aber noch nicht alles: Ende Juni stehen Präsidentschaftswahlen an. Grímsson, der dieses Amt seit 1996 bekleidet, hatte im Januar gesagt, er werde nicht ein sechstes Mal kandidieren. Kurz nach Gunlaugssons Rücktritt kündigte er feierlich an, nun doch für eine sechste Amtszeit zur Verfügung zu stehen, er könne sein Land nach den Panama Papers ja nicht im Stich lassen.

Das Land hat einen zurückgetretenen Premier und einen zurückgetretenen Präsidenten. Und Jón Gnarr

In den Fonseca-Unterlagen waren 600 isländische Namen gefunden worden - Island hat 330 000 Einwohner. Kurz darauf wurde er auf CNN interviewt. Auf die Frage, ob es Verbindungen von ihm oder seiner Frau zu Offshore-Konten gebe, sagte er: "Nein. Nein nein. Nein nein nein." Wo genau man die Punkte setzen muss, ist unklar, aber er sagte fünfmal hintereinander nein. Tags darauf wurde der Name seiner Frau in den Panama Papers gefunden.

Jetzt hat das Land also einen zurückgetretenen Premier und einen zurückgetretenen Präsidenten. Und es hat Jón Gnarr, den Schauspieler, der Bürgermeister wurde und jetzt als Ex-Bürgermeister einen Bürgermeister spielt.

Er verfremdet sich dabei gar nicht groß, sondern hat nur Kleidung an, die er selbst nie tragen würde, dunkelblaue Anzüge, spießige Brille, hässliche Krawatten, dazu gegeltes Haar, das aus seinem wilden Gestruwwel eine Art Helm macht. "Das gefällt mir am besten an der Serie", sagt er, "diese surrealistische Note, dieses Balancieren auf der Grenze zwischen Realität und Fiktion." Während er das sagt, krempelt er die Ärmel seines Hemdes hoch - auf beiden Unterarmen kommen Tätowierungen zum Vorschein, rechts das Logo der Punkband Crass, links das Stadtwappen von Reykjavík.

Das Hemd ist Rollenkostüm, die Tattoos sind echt, das Wappen hat er sich eintätowieren lassen nach seiner Wahl, um zu zeigen, dass es ihm ernst ist. Obwohl doch alles nur als Spaß begonnen hat, damals, im fernen Jahr 2009, an das jetzt wieder alle Isländer denken müssen.

Als Jón Gnarr seine "Beste Partei" erfand, war das ein Witz - aus dem Ernst wurde

Damals, als rauskam, dass sich ein paar Oligarchen die Banken unter den Nagel gerissen hatten. Dass sie mit dem Geld der Allgemeinheit dänische Firmen und britische Fußballklubs aufgekauft hatten, wofür sie sich zu Hause als die modernen Wikinger feiern ließen. Leider konnte keiner dieser Wikinger auch nur ansatzweise rechnen, und als die große Party zu Ende ging, hatten die Banken einen Berg Schulden angehäuft, der 16-mal so hoch war wie das isländische Bruttosozialprodukt.

Die Isländer waren ähnlich wütend wie heute, Jón Gnarr erfand, erst mal nur aus Gründen der eigenen Seelenhygiene, die "Beste Partei". Dazu einen Politikerhanswurst, eine Jovialitätsmaschine, die allen alles versprach. Er mischte die schlimmsten Phrasen aus den Wahlprogrammen der echten Parteien zu einem Wust surrealer Versprechen: Transparente Korruption! Bauern, die in die Stadt kommen, dürfen ihr Schaf umsonst mit ins Hotel nehmen! Die Leute klickten diesen Quatsch an und baten ihn, wirklich anzutreten. Also fing er mit seinen Musikerfreunden einen Wahlkampf an, bei dem er auf die Frage nach seiner Motivation antwortete, er sei lange genug freier Künstler gewesen und wolle als Vater von fünf Kindern endlich ein regelmäßiges Einkommen beziehen.

So weit, so Sonneborn. Quatsch kann schließlich jeder. Aber dann wurde er gewählt. Und verwandelte Spaß immer wieder in großen Ernst. Er führte jedes Jahr den Christopher Street Day als fantastisch herausgeputzte Drag Queen an. Als sich eine chinesische Handelsdelegation anmeldete, rief er, endlich komme Geld ins Land.

Eine Helsinki-Reise kündigte er an mit den Worten, er wolle aus Reykjavík "eine Partnerstadt des Mummintals machen".

Da sprach der Comedian. Und dann handelte der Bürgermeister: In Helsinki angekommen, studierte er das dortige Konzept für den öffentlichen Nahverkehr. Als die Chinesen ihn besuchten, forderte er die Freilassung des Schriftstellers Liu Xiaobo, vorher sei man nicht bereit zu Handelsgesprächen. Die Chinesen reisten empört ab. Und auch die Transvestitenauftritte waren mehr als Symbolpolitik: "Nichts stößt mich so ab wie der tief verwurzelte Machismus in unserer Gesellschaft," sagt er im Rathaus, "ich hab mich selbst als feministischer Terrorist im Patriarchat gesehen."

Kurzum, die Best Parti war "ein Kunstwerk mit Inhalt". So drückt es der Germanistikprofessor Gauti Kristmansson aus. Er sagt das voller Anerkennung. "Die haben hervorragende Politik gemacht, etwa als sie Reykjavík Energy, den größten Arbeitgeber der Stadt, umstrukturiert und so gerettet haben." Als Gnarr die gesamte Führungsriege rauswarf, zischte ihn einer der Vorstände an, er werde das bei der nächsten Wahl bitter bereuen. Gnarr konnte ruhig zurückfragen: "Welche Wahl?"

Die Leute da draußen würden Gnarr sofort eine Statue errichten

Seine Macht bestand also zu großen Teilen darin, dass er nie Macht haben wollte. Jetzt spielt er einen Bürgermeister, der sich an die Macht klammert, weil er sonst nichts hat, und "dessen innigster Wunsch es ist", wie Gnarr es sagt, "dass mal eine Statue von ihm aufgestellt wird."

Isländischer Ex-Bürgermeister als Schauspieler: Selbes Büro, selber Posten - aber ansonsten ist alles anders: Der Schauspieler Gnarr als korrupter Politiker.

Selbes Büro, selber Posten - aber ansonsten ist alles anders: Der Schauspieler Gnarr als korrupter Politiker.

(Foto: RvK Studios)

Die Leute da draußen würden Gnarr sofort eine Statue errichten. Es gab eine Unterschriftenpetition, dass er zur Präsidentschaftswahl am kommenden Wochenende antreten solle. Und alle sagen, wäre er angetreten, er würde haushoch gewinnen. "Oh Gott", sagt Gnarr, "niemals, das würde ich nicht noch mal aushalten."

Bei den Umfragen für die Parlamentswahl im Oktober liegt übrigens die Piratenpartei vorne. Die will eine Verfassung implementieren, die vom Volk gecrowdsourct wurde, aber das ist eine eigene Geschichte. Ein Märchen, so schön und surreal wie das von Jón Gnarr, dem Mann, der sich selbst ein Denkmal errichtet hat, indem er im richtigen Moment wieder ging.

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