Interview zur Zukunft des Journalismus (11):"Die Lage ist sehr schwierig"

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Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger spricht im Interview über gefährliche Nachrichten-Monopole, aggressive Expansion und chinesische Blogger im Kampf gegen die Zensur.

Peter Littger und Stephan Weichert

"Zeitenwechsel" - eine Serie zur Zukunft des Journalismus geht Trends in der Presse und im Internet nach. Zusammen mit dem Berliner Institut für Medien- und Kommunikationspolitik bereitete sueddeutsche.de in den letzten Wochen Interviews mit namhaften Experten auf. Dies ist die letzte Folge der Serie. Alle bisher geführten Interviews sind weiterhin unter sueddeutsche.de/zeitenwechsel abrufbar.

sueddeutsche.de: Wie beurteilen Sie den Zustand der Qualitätspresse?

Alan Rusbridger: Die Lage ist sehr schwierig. Bei uns in Großbritannien - und wahrscheinlich auch bei Ihnen - können wir uns nur noch mit Hilfe einer Mischkalkulation am Leben halten. Denn es gibt kein schlüssiges Geschäftsmodell mehr, das es uns erlaubt, den journalistischen Auftrag ohne Zusatzgeschäfte zu erfüllen. Wir sind gezwungen, uns neue Wege ausdenken, um Geld zu verdienen. Das gelingt zum Teil ganz gut, so dass ich weiterhin Grund habe, optimistisch zu sein. Viele Zeitungen entwickeln mit viel Enthusiasmus und auch Aggressivität digitale Angebote und finden sogar zu einem spannenden, internetgerechten "Story-Telling". Allerdings kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie alle überleben werden, weil das Internet keine ausreichende Grundlage bietet, um alle zu finanzieren.

sueddeutsche.de: Ist der Trend hin zur Gratispresse unaufhaltsam?

Rusbridger: Ja. Ich glaube fest, dass Vertriebserlöse im Geschäftsmodell der Zeitungen keine Zukunft haben. Uns bleiben nur das Anzeigengeschäft und alternative Einnahmen. Die New York Times hat aus meiner Sicht ein großes Problem, weil sie bisher kein überzeugendes Konzept für neue Einnahmemodelle entwickelt hat. Ganz anders die Washington Post, die ihr Geschäft schon sehr gut diversifiziert hat und zum Beispiel im 'Education Business' gutes Geld verdient. Auch der Guardian hat neue Geschäftsfelder entdeckt oder ausgebaut: Unser hochlukratives Gebrauchtwagenmagazin und Onlineportal www.autotrader.co.uk, aber auch die Regionalzeitungen oder Radiostationen werfen satte Gewinne ab, die wir für den Qualitätsjournalismus wieder ausgeben.

sueddeutsche.de: Wir unterstellen hier die ganze Zeit, dass es eine "Qualitätspresse" gibt. Das würde bedeuten, dass es unterschiedliche Qualitätsstufen von Journalismus gibt. Stimmt das - und wenn ja, wie definieren Sie Qualitätspresse?

Rusbridger: Der Level der Qualität ergibt sich aus der Bereitschaft und der Fähigkeit einer Redaktion, über die Komplexität des Lebens zu berichten. Die Boulevardblätter, die wir immer noch Tabloids nennen, vereinfachen alles, manchmal in einem unerhörten Maße. Qualitätsblätter gehen davon aus, dass sie der Vielschichtigkeit des Lebens, der Politik und aller anderen Bereiche gerecht werden müssen und versuchen es so gut sie können.

sueddeutsche.de: Der Guardian ist mit der Einführung des so genannten "Berliner Formats" vor fast drei Jahren selber von einem "Broadsheet" zu einem "Tabloid" geworden. Was hat Ihnen die Umstellung gebracht?

Rusbridger: Wir haben bewiesen, dass wir imstande sind, mit unserer Berichterstattung weiterhin der Komplexität des Lebens gerecht zu werden. Nur weil wir jetzt ein kleineres Format haben, befinden wir uns noch lange nicht in einer Vereinfachungs-Falle. Im Gegenteil: Unsere Möglichkeiten haben sich verbessert: Ich finde das Berliner Format wunderbar, weil es uns erlaubt, großformatige Fotos und große Mengen Text miteinander zu kombinieren. Außerdem nutzen wir durchgehend den Vollfarbdruck. Alle Konkurrenten müssen jetzt nachziehen. Aber die Auflage hat sich leider nicht wesentlich verbessert. Der Independent, der zuerst ein kleineres Format einführte, büßte seit der Umstellung jedes Jahr über 12 Prozent seiner Auflage ein. Unsere verkaufte Auflage war ebenfalls rückläufig, im vergangenen Jahr um circa drei Prozent. Ich habe also gelernt: Ein Formatwechsel ist noch keine Wunderwaffe.

sueddeutsche.de: Wo liegt die größte Verantwortung für die Qualität von Journalismus: in der Redaktion oder im Management einer Zeitung?

Rusbridger: Letztendlich immer in der Redaktion.

sueddeutsche.de: Könnten Sie sich vorstellen, dass die Presse irgendwann durch echte Subventionen am Leben gehalten wird, also: Steuergelder, öffentlich-rechtliche Gebühren oder Geld reicher Stiftungen?

Rusbridger: Der Guardian wird seit 1932 von einer Stiftung geführt: Dem Scott Trust. Darüber bin ich heilfroh, weil die Guardian Media Group am Ende des Tages nicht gewinnorientiert arbeiten muss, sondern gerade deswegen Überschüsse in journalistische Qualität reinvestieren kann. Staatsgelder für die freie Presse zu verwenden, ist ein Widerspruch in sich. Anders könnte das mit öffentlich-rechtlichen Gebühren aussehen, mit denen wir die BBC und Sie ARD und ZDF finanzieren. Da diese Sender immer mehr Online-Inhalte produzieren, kommen sie uns Zeitungen ohnehin mit dem, was sie tun, sehr nahe. Der britische Sender Channel4, der keine Gebührengelder erhält, aber sehr ähnlichen Standards wie die BBC entsprechen muss, hat vorgeschlagen, einen Teil der BBC-Gebühren für einen öffentlichen Fond einzusetzen, mit dem hochwertige journalistische Inhalte finanziert werden könnten. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass es irgendwann einen Topf gibt, an dem alle partizipieren, die Qualität wollen. Schließlich haben alle, die Qualitätsmedien schaffen, einen öffentlichen Auftrag!

sueddeutsche.de: Heißt das vielleicht, dass am Ende das öffentlich-rechtliche Modell das einzige ist, das Qualität liefern kann?

Rusbridger: Das wissen wir heute noch nicht. Wichtig ist jedenfalls, dass die gebührenfinanzierten Medien nicht die anderen verdrängen. Wir beobachten zum Beispiel gerade im Lokalen, dass die BBC ihre Berichterstattung stark ausbreitet und damit die Lokalzeitungen bedroht. Wenn das so weiter geht, vernichtet die BBC die Chance der Regionalzeitungen, sich zu wandeln und letztendlich zu überleben. Es wäre aber gut, wenn die Regionalzeitungen ohne Subventionen auf einer wirtschaftlichen Basis überleben. Es darf nämlich am Ende nicht nur einen Nachrichtenanbieter geben. Ein Nachrichtenmonopol, selbst eines der BBC, ist immer eine sehr gefährliche Sache. Die BBC ist eine wunderbare Einrichtung. Aber sie ist längst nicht unfehlbar, und wir dürfen sie auch nicht überschätzen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, ob es sinnvoll sein kann, Qualitätsjournalismus staatlich zu fördern.

sueddeutsche.de: Fühlen Sie sich durch die BBC bedroht?

Rusbridger: Als Bürger und Gebührenzahler mag ich eine starke BBC und einen gut geschützten, regulierten, unabhängigen öffentlichen Anbieter von hoher journalistischer Qualität. Und dass auch deshalb, weil die britische Presse so frei und ohne gesetzliche Auflagen agiert und deshalb oft sehr ungezügelt ist. Andererseits: Als Wettbewerber hasse ich die BBC, und ich wünsche mir oft, dass es sie besser nicht gäbe. Allerdings werden wir als überregionale Zeitung ganz gut mit dieser Konkurrenz fertig.

sueddeutsche.de: In Deutschland verhandeln Verlage derzeit Kooperationen mit öffentlich-rechtlichen Sendern, um deren Ton- und vor allem Bildaufnahmen online zu nutzen. Halten Sie das für eine gute Entwicklung?

Rusbridger: Es gibt sehr gute Gründe, die dafür sprechen, dass öffentlich-rechtliche Sender ihr Material ohne Beschränkung allen zur Verfügung stellen. Ich glaube auch, dass die BBC diesen Weg gehen wird, allerdings wird sie versuchen, ein kommerzielles Modell zu finden, das ihr große Einnahmen sichert. Das liegt daran, dass die BBC-Bosse in der Tiefe ihrer Herzen nicht daran glauben, dass es die Gebührenfinanzierung noch lange geben wird. Wahrscheinlich würden sie das öffentlich nie zugeben, aber ich kenne eine Reihe von Leuten in der BBC, die glauben, dass die jüngste Gebührenerhöhung die letzte in der Geschichte der BBC war. Das erklärt, warum die kommerzielle Abteilung BBC Worldwide dermaßen aggressiv expandiert. Sie hat erst neulich den Verlag Lonely Planet für 120 Millionen Euro gekauft. Solche Schritte sind nur zu verstehen, wenn man unterstellt, dass die BBC in Zukunft sehr stark einem freien Wettbewerb ausgesetzt ist und sich am Markt refinanzieren muss.

sueddeutsche.de: Das Online-Angebot von Rundfunk und Zeitungen wird immer ähnlicher, die Grenzen könnten in einigen Jahren derart verschwimmen, dass es gar nicht mehr möglich sein wird, zu sagen, ob der Guardian eine Zeitung und die BBC ein Sender ist. Wäre es dann nicht folgerichtig, die Presse schon bald öffentlich-rechtlich zu subventionieren?

Rusbridger: Die Beobachtung ist auf jeden Fall richtig: Die BBC ist zu einem Produzenten riesiger Textmengen geworden, während wir über unsere Website jede Woche bereits mehr als 30 Stunden Rundfunk- und Videostücke aussenden - und gewinnen für diese Video-Angebote schon Preise. Also werden wir uns alle in der Mitte treffen. Der Unterschied wird aber sein, dass die Presse unreguliert arbeiten muss - und darf -, und die BBC weiterhin einer strengen Regulierung unterliegt. Wir können in einer ganz anderen Weise als die BBC Meinung machen und offensiv verbreiten. Das sollte man wahrscheinlich nicht mit den Gebühren aller finanzieren.

sueddeutsche.de: Wird die Zeitung in 20 bis 30 Jahren noch auf Papier gedruckt werden?

Rusbridger: Ich glaube, dass das Papier verschwinden und durch moderne Formen der Übertragung abgelöst wird: den iPod der Zeitungsindustrie. Diese Lösung ist zwingend, denn die Kosten für die Herstellung und die Verbreitung von Zeitungen auf Papier werden schlicht nicht mehr zu bezahlen sein. Wir warten also auf ein solches Gerät.

sueddeutsche.de: Wie weit sind Sie als Chefredakteur heute mehr ein Manager als es ihre Vorgänger waren?

Rusbridger: Die Aufgabe des Chefredakteurs wandelt sich mit dem strukturellen Wandel unseres Unternehmens. Ich sehe mich zwar immer noch als Chefredakteur, doch Management-Aufgaben beanspruchen deutlich mehr von meiner Zeit als früher. Doch wenn wir erfolgreich all die Dinge machen wollen, damit Journalisten imstande sind, Inhalte rund um die Uhr für vier oder fünf oder noch mehr verschiedene technische Plattformen zu produzieren, verlangt das von mir nun mal viel mehr Managementleistungen als von meinen Vorgängern.

sueddeutsche.de: Wie wichtig ist die journalistische Identität einer Redaktion?

Rusbridger: Eine spezifisch journalistische Identität bedeutet, dass die Redaktion ihre inhaltlichen Aufgaben genau kennt und sie von den kaufmännischen Zielen abgrenzen kann. Das ist sehr wichtig. Die Journalisten wünschen sich immer einen, der sie führt, der sie zugleich versteht und eine Verbindung herstellt zu den Kaufleuten. Ich glaube, es ist am besten, wenn ich das als Chefredakteur mache anstatt diese Aufgaben Managern zu überlassen, die nie eine journalistische Identität hatten.

sueddeutsche.de: Können Journalisten überhaupt erfolgreiche Manager sein?

Rusbridger: In unserer Journalistenausbildung spielen Geld und kaufmännisches Denken eine viel größere Rolle als früher. Bisher hatten wir noch keinen Journalisten an der Spitze der Guardian Media Group, aber wir beobachten diesen Trend schon länger bei News International (Anm. d. Red.: The Sun, News of the World u. a.) oder dem Independent. Oder denken Sie an Marjorie Scardino (Anm. d. Red.: Verlagsgruppe Pearson). Oder David Montgomery (Anm. d. Red.: Berliner Zeitung u. a.), der früher einmal Chefredakteur war. Ich glaube, dass es immer normaler wird, dass auch Journalisten Medienunternehmen führen.

sueddeutsche.de: Montgomery ist ja ein Eigentümer von der Sorte, die hierzulande als "Heuschrecken" beschimpft wurden, weil sie beabsichtigen, maximale Erträge aus den Unternehmen herauszuquetschen. Ist dieser Eigentümer-Typ der Trend, auch in der Qualitätspresse?

Rusbridger: Ich frage mich im Fall der britischen Presse schon seit geraumer Zeit, wer in den nächsten Jahren unsere Zeitungen kaufen wird. Denn in vielen Fällen stellt sich die Frage, ob die bisherigen Eigentümer und ihre Familien das Geschäft fortsetzen werden. Oft haben sie ganz andere Pläne. Denken sie an Murdoch, O'Reilly oder die Barclay-Brüder. Sie alle haben ihre Söhne eingesetzt: James Murdoch, Gavin O'Reilly and Aidan Barclay. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Erben das Geschäft wirklich aus wirtschaftlichen Gründen übernehmen wollen, schließlich wirft es meistens keine guten Gewinne ab. Die Barclays haben im letzten Jahr mit dem Telegraph gerade drei Prozent Rendite gemacht. Jede Bank hätte ihnen für ihr Geld mehr geboten. Eine riesige Gefahr liegt also in der Antwort auf die Frage, warum bestimmte Leute Zeitungen überhaupt noch besitzen wollen. Wer weiß, wer sich irgendwann unsere Zeitungen kauft: Russische Oligarchen, Staatsfonds aus der arabischen Welt? Was wollen sie wirklich? Ich nehme an, Einfluss. Ich sehe wieder eine Zeit kommen, in der sich immer mehr reiche Leute Zeitungen leisten, um Meinung zu machen. Um zu manipulieren und um eigene Interessen und nicht mehr die Interessen aller zu forcieren.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Blogs ein wichtiges Element für den Qualitätsjournalismus sein können.

sueddeutsche.de: War das nicht schon immer so?

Rusbridger: Es gab nie einen Pressebaron, der nicht reich werden wollte. Die Gefahr in der Zukunft liegt darin, dass die Eigentümer gar kein Geld mehr verdienen, sondern nur mehr Einfluss gewinnen wollen. Das Profit-Motiv ist ein saubereres Motiv als das Streben nach Einfluss.

sueddeutsche.de: Zurzeit entwickeln sich eine Reihe von Non-Profit-Medien, die investigativ arbeiten und Dinge machen wollen, die in der Qualitätspresse zu kurz kommen. Geben Sie solchen Initiativen eine Chance?

Rusbridger: Möglicherweise wird es künftig besser sein, nicht ganze Medienunternehmen, sondern bestimmte Arten von Journalismus zu subventionieren: die Reportage, den Enthüllungsjournalismus oder bestimmte Nischen, die sich nicht mehr finanzieren ließen.

sueddeutsche.de: Ist eine Zusammenarbeit mit diesen Redaktionen für den Guardian sinnvoll?

Rusbridger: Wir haben das schon einmal ausprobiert, allerdings war das nicht besonders erfolgreich. Wichtig ist, dass man weiß, wer hinter einer journalistischen Story steckt. Deshalb würden wir das nur machen, wenn einer unserer Reporter mit eintauchen kann in das Team auf der anderen Seite. So können sie die Qualität besser sicherstellen.

sueddeutsche.de: Welche Medienangebote finden Sie - natürlich neben dem des Guardian - wirklich bemerkenswert innovativ?

Rusbridger: Die Huffington Post von Arianna Huffington ist eine wirklich neuartige Internet-Zeitung, ein neues Modell für Kommentare, Diversifizierung von Meinung und Leser-Beteiligung. Ich mag auch das Online-Magazin Slate, ein weiteres Leitmedium im Internet, das mittlerweile der Washington Post gehört. Jay Rosens Projekt NewAssignment.net finde ich ebenfalls sehr spannend.

sueddeutsche.de: Wodurch wird sich der Guardian in Zukunft auszeichnen: Enthüllung, Recherche, Scoops oder eher Meinung, Zuspitzung und das, was 'Intellectual Scoops' genannt wird?

Rusbridger: Der Blog ist so etwas wie der 'Dritte Weg' zwischen Meinung und Enthüllung. Er ist deshalb ein wichtiges Element für uns. Das Problem mit faktischen Scoops ist, das sie nie lange halten. Wer weiß schon, dass die Enthüllung über Eliot Spitzer von der New York Times kam? Niemand, weil sie höchstens 90 Sekunden exklusiv auf deren Website stand, bevor sie zitiert wurde. Und selbst wenn einige freundliche Kollegen noch ein paar Stunden später auf die Quelle hinweisen - die Leistung der Redaktion kann nie angemessen gewürdigt werden, weil sie sich viel zu schnell verbreitet und damit verflüchtigt. Deshalb werden wir intelligente Formen brauchen, die 'Factual Scoops' und 'Scoops of Interpretation' miteinander verbindet.

sueddeutsche.de: Kann es überhaupt einen Laienjournalismus geben, der den Ansprüchen der Qualitätspresse gerecht wird?

Rusbridger: Es lohnt sich sehr, mit den Lesern zusammenzuarbeiten, vor allem auf Gebieten, die sie viel besser verstehen als wir. Das gab es früher nicht. Wir müssen Formen der Kooperation suchen. Die Vorstellung allerdings, dass Bürgerjournalisten die Arbeit professioneller Journalisten ersetzen könnten, ist abschreckend, weil sie nie die umfassende Fähigkeit einer Redaktion entwickeln könnten, Zusammenhänge und Fakten breit und umfassend zu verifizieren. Was Bürgerjournalisten antreibt, ist meistens ein spezifisches Interesse. Dieser Ansatz ist nicht schlecht, sondern lobenswert - aber im Kern ist er oft unjournalistisch.

sueddeutsche.de: Sie haben einen sehr expliziten Brief an die chinesische Botschafterin geschrieben, um sich über die Zensur der Website des Guardian in China zu beschweren. Glauben Sie, dass Sie damit etwas gegen die Zensurpraxis in China ausrichten können?

Rusbridger: Ich glaube, dass chinesische Blogger im Kampf gegen die Zensur siegen und immer bessere technische Möglichkeiten finden werden, auf alle Websites zuzugreifen. Zensur wird also dauerhaft nicht funktionieren. Und ich glaube, dass wir im olympischen Jahr alle Möglichkeiten nutzen sollten, die wir haben, um so viel Druck auf die chinesische Zensur und die Behörden auszuüben wie möglich.

Alan Rusbridger, geboren 1953 in Nordrhodesien (das heutige Sambia), arbeitet - mit kleineren Unterbrechungen - seit fast 30 Jahren für die linksliberale britische Qualitätszeitung The Guardian (gegründet 1821, Auflage: ca. 355.000), davon 13 Jahre als deren Chefredakteur. Seine journalistische Karriere begann er bei den Cambridge Evening News , danach schrieb er für den Observer und die London Daily News , bevor er 1979 als Reporter und Kolumnist zum Guardian ging. Rusbridger hat zahlreiche Neuerungen des angesehenen Traditionsblattes der vergangenen Jahre in die Wege geleitet: Er gründete Guardian Weekend und die Zeitungsbeilage G2 , entwickelte den vielfach preisgekrönten Internet-Auftritt des Blattes, Guardian Unlimited , und verantwortete im Herbst 2005 die Umstellung vom Broadsheet auf das sogenannte Berliner Format. Rusbridger setzte auch als einer der Ersten das Motto "Online first" um, wonach Artikel zuerst im Internet, dann erst in der ist Druckausgabe der Zeitung erscheinen. Rusbridger ist Mitglied der Guardian News and Media, dem Vorstandsgremium der Guardian Media Group und dem Scott Trust, dem der Guardian gehört, und ist zudem leitender Herausgeber des Observer . Neben seinem journalistischen Engagement ist Rusbridger Gastprofessor an der Queen Mary University of London und Präsident des National Youth Orchestra of Great Britain. Außerdem hat er drei Kinderbücher verfasst und ist Ko-Autor des kontroversen BBC-Dramas "Fields of Gold".

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