Interview mit Mike Leigh:Ungewissheit als Kapital

Grübeln über "Casablanca", seufzen über Schecks - ein Gespräch mit dem Filmemacher Mike Leigh

Nach einer Eskapade in die Operettenwelt von Gilbert & Sullivan, "Topsy-Turvy" (1999), meldete Mike Leigh sich im vorigen Jahr zurück in der Misere, mit dem Alltagsdrama "All or Nothing" in Cannes, wo er mit "Secrets & Lies" 1996 die Goldene Palme gewonnen hatte.

Interview mit Mike Leigh: "Meine Arbeitsweise ist doch sehr bewusst."

"Meine Arbeitsweise ist doch sehr bewusst."

(Foto: SZ v. 16.01.2003)

SZ: Ihr Kinodebüt war "Bleak Moments", 1971 - wäre das ein möglicher Alternativtitel für "All or Nothing"?

Mike Leigh : Nein, denn das ist ein Film, in dem es keine Katharsis gibt, die Blase platzt nie auf. In "All or Nothing" gibt es eine Veränderung, er stellt auch viel mehr Fragen an die Beziehungen.

SZ: Aber doch erst vom Ende her.

Leigh: Wenn man das Ende wegließe, hätte der ganze Film keinen Sinn. Während man dem, was da passiert, zusieht, weiß man, etwas muss geschehen.

SZ: Es gab ja durchaus Figuren in Ihren Filmen, die fähig sind, ihre Gefühle zu artikulieren.

Leigh: Das stimmt. Und Phil, den Timothy Spall spielt in "All or Nothing", ist sicher nicht gerade geschwätzig; dennoch vermag er seine Ideen auszudrücken - auf seine eigene Art.

SZ: Mit Schauspielern wie Ruth Sheen, Timothy Spall und Lesley Manville haben Sie bereits mehrfach gearbeitet. Besteht da nicht die Gefahr eines Gefälles, zwischen ihnen und den Leuten, die das erste Mal mit Ihnen arbeiten?

Leigh: Das ist kein Problem, jeder Film ist etwas Neues und wir erforschen andere Charaktere. Lesley Manville und Philip Davis, die das Motorradpaar in "High Hopes" spielten, haben schon - in einem Fernsehfilm und in einem Hörspiel - ein Paar für mich verkörpert. Aber das waren natürlich ganz verschiedene Paare, unterschiedliche Figuren.

SZ: Ich vermute, Timothy Spall wusste beim Drehen noch nicht, wie die Geschichte ausgehen wird, ob er eine Chance hätte, seine Gefühle gegenüber seiner Ehefrau herauszulassen. Ein bisschen wie in "Casablanca", wo Ingrid Bergman auch nicht wusste, wird sie am Ende mit Bogart oder Paul Henreid fortgehen.

Leigh: Ich will ja nicht unhöflich sein gegenüber denen, die beteiligt waren an einem so wunderbaren "Zufalls"-Klassiker wie "Casablanca", aber meine Arbeitsweise ist doch sehr bewusst. Diese Ungewissheit bei den Darstellern ist ein großartiges Kapital, das gibt dem Film Motivation, Realität und Spannung.

SZ: Wie wichtig ist für Sie die Arbeit im Schneideraum? Ist es je passiert, dass Sie eine Figur ganz entfernt haben?

Leigh: Das ist vorgekommen, ja. Ein Film wird im Schneideraum gemacht. Wenn man dort anfängt, hat man Rohmaterial und eine Menge Möglichkeiten. Man verliert Szenen, manchmal auch Figuren - in diesem Fall waren das Nebenfiguren. Die Szene mit der Französin, die in Phils Taxi fährt und mit der er sich lange unterhält, begann ursprünglich in einem Antiquitätenladen, wo Phil sie abholt - das habe ich geschnitten, weil das schwerfällig und langsam war. Vor allem aber, weil wir beim Schnitt sahen, dass es einfach schön war, wie plötzlich ein anderer Fahrgast in Phils Taxi sitzt: Man denkt, in einer Minute ist sie wieder aus dem Film verschwunden, stattdessen wird sie plötzlich wichtig.

SZ: Haben Sie schon mal daran gedacht, digital zu drehen - würde das bei Ihrer Methode nicht funktionieren?

Leigh: Es würde wohl letzten Endes keine Auswirkungen auf meine Arbeitsweise haben. Aber keine Frage, irgendwann werde auch ich mich damit beschäftigen ...

SZ: Die Einstellungen könnten länger sein ... wie die am Ende von "All or Nothing", wenn das Ehepaar in ihrer Wohnung sich näher kommt.

Leigh: Das stimmt. Andererseits mag ich es, wenn das Material mir gewisse Zwänge, eine Art Disziplin auferlegt. Die Digitalkamera ist ein Werkzeug, entscheidend ist, wie man es benutzt.

SZ: Ist eigentlich Hollywood je auf Sie zugekommen mit einem großen Projekt?

Leigh: Es hat die üblichen Rituale gegeben. Als wir versuchten, das Budget für "Topsy-Turvy" zusammenzubekommen, der ursprünglich doppelt so viel kosten sollte, sagen sie nie "Nein". Sondern: "Machen wir das einfach! ... 5 Millionen Dollar? ... Warum nicht? ... Wir schreiben euch einen Scheck aus!" Und wenn man dann nachfragt, wo der Scheck nun bleibt, dann haben sie es sich anders überlegt. Man seufzt, aber mit einem Seufzer der Erleichterung. Bei "Topsy-Turvy" hatten wir einiges amerikanisches Geld drin, vom US-Verleih - aber nie so viel, dass sie Kontrolle ausgeübt hätten. Ich bin sehr strikt darin, mich nicht auf irgendwelche Kompromisse einzulassen. Mein Produzent kommt des öfteren von Treffen mit potenziellen Finanziers zurück, und dann sagt er: "Es macht ihnen nichts aus, dass es kein Drehbuch gibt, es macht ihnen nichts aus, dass sie nicht wissen, wovon der Film handeln wird - aber sie bestehen absolut auf einem bekannten Namen in der Besetzung." Also lasse ich das Ding eben. Interview: Frank Arnold

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