Interview mit Linda Evangelista:"Ich habe meine Barbie-Puppen misshandelt"

Linda Evangelista hat das Makeup-Gen. Sagt sie. Außerdem hat sie sich dem Fotografen Peter Lindbergh aufgezwungen. Sagt sie auch. Sie sagt überhaupt ziemlich viel. Freiwillig. Aber auf den Satz: "Für weniger als 10.000 Dollar am Tag stehe ich erst gar nicht auf", darf man sie nicht ansprechen.

Tanja Rest

Linda Evangelista wuchs in einfachen Verhältnissen in Kanada auf, ihr Vater war Arbeiter bei General Motors. Nach der High School modelte sie zunächst mit bescheidenem Erfolg. Eine Fotostrecke von Peter Lindbergh in der Vogue brachte den Durchbruch. Gemeinsam mit Cindy Crawford, Christy Turlington, Naomi Campbell und Claudia Schiffer bildete sie in den 90er Jahren die Riege der Supermodels. Privat hatte sie weniger Glück: Die Ehe mit dem Chef ihrer Agentur "Elite" scheiterte, ebenso ihre Beziehungen mit dem Schauspieler Kyle MacLachlan und dem französischen Nationaltorhüter Fabien Barthez. Nach sechs Jahren Pause war die 39-Jährige kürzlich wieder auf Laufstegen und Covern zu sehen. Als Sprecherin der Kosmetikfirma MAC wirbt sie für Lippenstifte, deren Erlös der Aidshilfe zugute kommt.

Interview mit Linda Evangelista: So mag man sich das Boudoir von Linda Evangelista vielleicht vorstellen. Aber so ist es nicht. So ist sie nicht. Jedenfalls nicht im Moment. Schon wegen der Haarfarbe.

So mag man sich das Boudoir von Linda Evangelista vielleicht vorstellen. Aber so ist es nicht. So ist sie nicht. Jedenfalls nicht im Moment. Schon wegen der Haarfarbe.

(Foto: Foto: dpa)

SZaW: Lassen Sie uns über Fotografen sprechen. Sie haben mit den ganz Großen gearbeitet ...

Linda Evangelista:. . . und es ist traurig, und ich habe befürchtet, dass es passieren würde: Helmut Newton war nicht dabei.

SZaW: Warum eigentlich nicht?

Evangelista: Ich habe mich einfach nicht mit seinen Augen gesehen.

SZaW: Oho! Hat er Sie denn gefragt?

Evangelista: Ja.

SZaW: Und Sie haben abgesagt?

Evangelista: Ich hatte Angst. Verrückt, weil ich seine Arbeit sehr bewundere, aber ich wollte da einfach nicht hingehen. Da war etwas in seinen Bildern, das mich eingeschüchtert hat. Komisch, wo ich es so liebe zu experimentieren. Er hat tatsächlich mal ein Foto von mir gemacht, aber das war ein Reportagebild: ohne Makeup, pur, weich. Kein echter Newton also.

SZaW: Wovor hatten Sie Angst?

Evangelista: Ich habe mich einfach nicht so gesehen.

SZaW: Als nackte Alpha-Frau auf High Heels.

Evangelista: Es ist zwar langweilig, jeden Tag Linda Evangelista zu sein, aber die Newton-Linda machte mir Angst. Jetzt, nach seinem Tod, bereue ich es natürlich.

SZaW: In den vergangenen 15 Jahren sind Sie von Fotografen "gemacht" worden. Wenn Sie heute ein Kinderbild von sich betrachten, was sehen Sie?

Evangelista: Das ist beängstigend. Ich habe mich nicht verändert. Ich bin natürlich älter geworden, aber ich war schon damals besessen von Mode. Ich wurde mit dem Mode- und dem Makeup-Gen geboren.

SZaW: Was hat dieses Gen mit Ihnen angestellt?

Evangelista: Meine Barbie-Puppen wurden von mir misshandelt. Sie wurden umgezogen und umgezogen und umgezogen, sie haben heftige Makeup- und Frisurenwechsel durchgemacht. Ich hatte außerdem zwei junge Tanten, die zierlich waren und winzige Füße hatten. Die gaben mir ihre High Heels und ihr Makeup. Mit neun Jahren konnte ich eine perfekte Maniküre machen. Es gibt ein Bild von mir, da bin ich sechs: Ich habe etwas umhängen, das wie eine Chanel-Tasche aussieht, und ich posiere in einem roten Pullover mit dieser roten Tasche - ich posiere!

SZaW: Waren Sie ein glückliches Mädchen?

Evangelista: Meine Kindheit war ganz normal. Nicht privilegiert, aber mir hat nichts gefehlt. Als ich zwölf war und Model werden wollte, brach ich in Tränen aus: "Ich brauche Kleider!" Meine Mutter nähte sie mir und arbeitete, um mich auf die Model-Schule zu schicken.

SZaW: Sie haben dann bei einem Schönheits-Wettbewerb mitgemacht.

Evangelista: Das war später. Ich war 16. Die Leute von der Model-Schule schlugen vor, dass ich am "Miss Niagara Contest" teilnehme. Irgendjemand kreierte ein Abendkleid für mich. Ich habe nicht gut abgeschnitten. Aber da saß ein Scout, der meiner Mutter die Karte gab. Sie fand, dass ich zu jung war. Sie hat ihn angerufen, als ich mit der High School fertig war.

SZaW: Erinnern Sie sich an Ihr erstes Shooting?

Evangelista: Schwach. Das war in New York, eine Produktion für kleine Mode-Kataloge. Ich konnte nicht fassen, dass sie mich für etwas bezahlten, das ich so gerne machte.

SZaW: Waren Sie nervös?

Evangelista: Nein! Vor der Kamera bin ich nie nervös. Vor Menschen? Eine andere Geschichte.

SZaW: Sie wurden von Peter Lindbergh entdeckt.

Evangelista: Er hat mich nicht entdeckt, ich habe mich dem Mann aufgezwungen! Ich bin mit meiner Fotomappe zu diesem Kerl gegangen - ich weiß nicht, wie oft. Alle sechs Monate hab' ich da vorgesprochen, und er immer, auf Deutsch: "Ja, ja, schön, dankeschön." Ich habe drei Jahre gebraucht, bis er mit mir arbeiten wollte.

SZaW: Warum waren Sie so scharf drauf?

Evangelista: Ich hatte damals schon viele Foto-Jobs und war sehr glücklich darüber. Aber ich hatte noch nicht dieses Top-Level erreicht, für das Lindbergh stand.

SZaW: Was ist so besonders an ihm?

Evangelista: Peter hat mich als Einziger so gezeigt, wie ich bin. Was beängstigend für mich ist. Es war unglaublich hart, ich zu sein. Also, er ist magisch, talentiert. Er ist Deutscher! Er kann Tränensäcke und Falten schön aussehen lassen. Manche Leute retuschieren das, sie wollen diese Dinge auslöschen. Aber in seinen Bildern gibt es eine Wahrheit, die schön ist. Er und Steven Meisel, Patrick Demarchelier und einige andere Fotografen wurden zur selben Zeit auf mich aufmerksam. Plötzlich passierte etwas.

SZaW: Und ich dachte, Ihre Karriere ging mit einem Kurzhaarschnitt los.

Evangelista: Stimmt ja auch. Bevor Lindbergh mich fotografierte, sagte er zu mir: "Ich glaube, du solltest die Haare abschneiden." Ich zeigte ihm einen Vogel. Ich habe Steven Meisel angerufen, der sagte: "Tu's nicht." Jeder sagte das. Der Trend waren lange Haare. Dann habe ich meine Mutter gefragt, sie meinte: "Oh Gott, du wirst die Einzige mit kurzen Haaren sein!" - Okay, dachte ich. Aber was wäre eigentlich so schlimm daran?

SZaW: Und?

Evangelista: Es gibt Bilder davon. Ich habe geheult und getobt. Es ist unglaublich, wie unsicher ich mich gefühlt habe, als die Mähne plötzlich ab war.

SZaW: Und dann wurden Sie ein Star.

Evangelista: Die kurzen Haare haben mich auf ein anderes Level katapultiert. Danach haben sich alle die Haare abgeschnitten. Es war beeindruckend: Wohin ich kam, überall sah ich meinen Haarschnitt.

SZaW: Sie sahen damals aus wie ein Junge. Allerdings einer, der sehr cool und sexy ist.

Evangelista: Manchmal fühle ich mich auch so, aber manchmal eben auch feminin und mädchenhaft. Lindbergh fotografierte mal eine Bonnie-and-Clyde-Geschichte mit Karen Mulder und mir in Südfrankreich. Es war ein verrückter Tag, es schneite. Ich schrie: "Ich werde nicht Clyde sein! Ich bin Bonnie!" Darauf Peter: "Aber du kannst nicht Bonnie sein!" Und ich: "Ich bin Bonnie!" Ich gewann, aber ich musste büßen. Ich trug nichts außer einem winzigen Slip, und darin ließ Peter mich mit Clyde im Schnee tanzen.

SZaW: Jedes Supermodel trug zusätzlich zu seinem Vornamen noch einen Titel. Ihrer lautete: "Das Chamäleon".

Evangelista: Weil ich nie Angst hatte, herum zu experimentieren.

SZaW: Jemand hat mitgezählt: Sie hatten 17 verschiedene Haarfarben in vier Jahren.

Evangelista: Kann schon sein.

SZaW: 17 Haarfarben in vier Jahren sind eine Menge!

Evangelista: Ich habe nicht Buch darüber geführt. Aber ich töne mir immer noch ziemlich oft die Haare.

SZaW: Man nannte Sie auch: "Die Inkarnation der modernen Frau".

Evangelista: Huuuh, tolles Kompliment.

SZaW: Das Lustige ist, dass Sie immer besonders gut bei Frauen angekommen sind.

Evangelista: Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass ich im Lauf meiner Karriere mehr Frauen als Männer erreicht habe. Komisch. Bis heute frage ich mich: Warum hatte ich nicht genauso viele männliche Fans wie die anderen Mädchen?

SZaW: Schlimm?

Evangelista: Nein. Vielleicht liegt es daran, dass ich vor allem in Modemagazinen abgebildet war und nie Kalender gemacht habe oder so etwas. Eigentlich sind mir die Frauen auch immer wichtiger gewesen.

SZaW: Trotzdem soll ich Sie von meinen männlichen Kollegen herzlich grüßen.

Evangelista: Das ist nett, grüßen Sie sie bitte zurück.

SZaW: Steven Meisel, den Sie bereits erwähnt haben, soll die so genannte "Trinity" erfunden haben: Sie, Christy Turlington und Naomi Campbell.

Evangelista: Oh Gott, die Trinity ...

SZaW: Okay, Sie hassen diesen Begriff.

Evangelista: Die Presse hat ihn überstrapaziert. Wir haben uns nie so genannt.

SZaW: Wie haben Sie sich denn genannt?

Evangelista: Gar nicht! Wir waren einfach zur selben Zeit erfolgreich, wir haben Schauen zusammen gemacht, Shootings, Musikvideos. Wir hatten viel Spaß. Und Steven war zugegebenermaßen nicht der Einzige, der uns im Dreierpack gebucht hat.

SZaW: Meisel gilt seit Jahren als Zauberer unter den Fotografen. Als Verwandler.

Evangelista: Zu Recht. Bei ihm war ich alles, außer ich selbst. Ich habe mich immer darauf gefreut, mit ihm zu arbeiten - man wusste nie, was einen erwartet. Karl Lagerfeld sagte kürzlich in einem Interview, ich würde für ein gutes Foto aus dem Fenster springen. Karl, du hast recht: Für ein tolles Foto mache ich alles!

SZaW: Standen Sie je auf der anderen Seite, hinter der Kamera?

Evangelista: Ich habe mal Fotos von mir selbst gemacht, für die französische Elle. Das war im vergangenen September: Wir haben ein ganzes Mode-Special produziert, etwa 100 Seiten. Eine Geschichte fehlte uns noch, und der Fotograf, den ich haben wollte, hatte abgesagt. Ich war so frustriert, dass ich entschied: Dann mache ich es eben selbst.

SZaW: Und wie war's?

Evangelista: Ich werde es Nie! Wieder! Tun! Das war der schlimmste Tag meines Lebens. Ich habe mich in diesem Raum voller Leute umgeschaut und so unter Druck gefühlt wie noch nie. Plötzlich war mir klar: Nichts würde passieren, wenn ich nicht dafür sorgen würde, dass es passiert.

SZaW: Stressig.

Evangelista: Dann die Postproduktion! Ich musste mich vor den Schirm setzen und drei Tage lang mich selbst anstarren. Jeder einzelne Makel ist mir schlagartig bewusst geworden. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde - aber ich hatte es so satt, mich anzuschauen! Das war das erste und letzte Mal, dass ich als Fotografin gearbeitet habe. Seither weiß ich es zu schätzen, was diese Leute leisten.

SZaW: Besitzen Sie selbsteine Kamera?

Evangelista: Ja, hier ist sie, eine winzige Digitalkamera. Ich habe sie immer dabei. Arthur Elgort von der Vogue war derjenige, der mich richtig für Fotografie interessierte. Viele Models haben keine Ahnung davon - ich weiß viel darüber. Als wir vor langer Zeit mal nach China reisten, brachte mich Arthur dazu, eine Leica zu kaufen. Es war die M6, das komplizierteste Modell von allen. Sie hat eine Seele, die anderen Kameras fehlt. Ich dachte, die beherrsche ich im Leben nicht, aber Arthur hat mir alles beigebracht.

SZaW: Ein Trick beim Fotografieren?

Evangelista: Wichtig: Wenn du etwas siehst, mach das Bild! Wenn du erst Fokus und Belichtung einstellst, ist der Moment vorbei.

SZaW: Wissen Sie was? Ich finde, wir sollten jetzt mal ein Bild machen.

Evangelista: Okay, aber ich will auch eins.

Man stellt sich nebeneinander auf. Ein netter Herr bedient erst Evangelistas Designerstück, dann die mitgebrachte Einwegkamera. Auf dem entwickelten Foto werden zwei Welten aufeinander prallen: das prosaische Grinsen der Reporterin und das überirdische Lächeln einer Ikone. Sie hat tatsächlich ihr Kamera-Gesicht aufgesetzt.

SZaW: In einigen Stunden werden Sie bei der Berliner Aidsgala auftreten und einen 100000-Euro-Scheck der Kosmetikfirma Mac zugunsten der Deutschen Aidshilfe überreichen. Es werden viele Fotografen da sein. Werden Sie es genießen?

Evangelista: Ja, und mehr als das. Lassen Sie es mich so sagen: Ich bin sehr stolz auf meine Arbeit. Ich bin Model geworden, weil ich Mode liebe. Nacktfotos: habe ich nie gemacht. Ich bin für meine Modefotos bekannt und nicht dafür, dass ich eine Linda-Produktlinie auf den Markt gebracht und mich ausgezogen habe. Aber so etwas wie heute Abend ist eine Ehre. Ich kann das Image, das ich mir selbst aufgebaut habe, benutzen, um etwas zu verändern.

SZaW: Sie haben sich 1998 aus dem Modelbusiness zurückgezogen. Nun, sechs Jahre später, sind Sie zurück. Haben Sie die Kamera vermisst?

Evangelista: Deshalb bin ich zurückgekommen.

SZaW: Das Schöne ist ja, Sie und Kolleginnen wie Kate Moss widerlegen nun die These, die zeitgleich mit Ihnen aufkam: Dass mit 30 Jahren alles vorbei ist, nämlich.

Evangelista: Damals dachte ich, es ist im Interesse aller, dass ich abtrete. Aber es gab viele Anfragen, viele Leute unterstützten mich. Und ich habe ein Riesenglück, dass Designer mich immer noch anziehen wollen, dass Fotografen mich immer noch fotografieren. Ich habe Glück, dass sie mein Alter nicht gegen mich auslegen. Alter ist keine hässliche Sache.

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