Internetvideo der Woche:Wurm und Drang

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Menschen sind die besseren Maschinen: Wie man mit genialen Ideen die treppensteigende Spiralfeder Slinky und digitale Spezialeffekte übertrumpft - die Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Mit der Digitalisierung kam der Ladebalken in die Welt und wurde zum Bild für all die kurzen Zeitspannen sinnlosen Wartens, die man leider nicht addieren und am Ende des Tages als hochwertigen Freizeitbalken abspielen kann. Heute hat sich die Funktion des sich mit Farbe füllenden Balkens gewandelt: Das Warten verbildlicht er zwar immer noch bei Problemen mit langsamen Leitungen, doch allmählich ist er zu einer Echtzeitzählung geworden, die etwa bei YouTube den Ablauf des Videos anzeigt.

Solche von Computern erschaffenen Bildmuster sickern ins Denken ein. So wendet man mitunter Handlungsweisen, die nur in der technischen Struktur der Simulation Sinn ergeben, auf die Welt an, die zur Benutzeroberfläche wird, und versucht etwa, Gegenstände zu googeln.

Der Clip "zZz is playing: Grip" lässt sich bewusst auf diese digitalen Richtwerte ein und stellt Videoeffekte mit so realen wie analogen Mitteln nach: einem Trampolin, bunten Kartons und Luftballons. Der Ladebalken am unteren Bildrand wird von Hand weiß ausgemalt. Dabei tarnt sich der Balkenmaler nicht deckungsgleich zum Hintergrund - das Täuschungsspiel ist entdeckbar, die Irritation kalkuliert.

Zunächst, als der Zuschauer das Trampolin noch nicht als solches erkennt und das Pulsieren sieht, das er etwa von Bildschirmschonern kennt, wirkt der Clip tatsächlich wie eine Videoanimation. Man braucht einen Moment, um Realität und Machart der Szene zu begreifen. Doch dann sieht man die Beine der Springerin, und die liegenden Musiker der Band zZz, die ihren Song "Grip" spielen, werden ins Bild gefahren: Sie passen sich der Perspektive an, nicht umgekehrt.

Die Springer zeigen das Schild "Rotate" und drehen sich, dann das Schild "Flip" und überschlagen sich: Dinge können so einfach sein und dabei so faszinierend. Mit einer Fehlermeldung kommt die gelbe Turnerin zum Erliegen, ein Regenbogenschirm kreist am Rand entlang. Nebel wird eingespeist, Luftballons werden zum Teilchenschwarm; Zettel mit dem Buchstaben "Z" fallen vom Himmel und die Druckkultur legt sich ein letztes Mal über die nach Dominanz strebende digitale Welt.

Am Ende erkennt man, dass es sich um einen Live-Mitschnitt handelt. In einem virtuellen Clip könnte alles nachbearbeitet und gefeilt werden, der magische Moment bestünde nurmehr als Illusion. Um jedoch dieses digitale Tableau Vivant bei einer Performance im Stedelijk Museum in 's-Hertogenbosch zu erzeugen, arbeitete das Team von Regisseur Roel Wouters lange auf viereinhalb Echtzeitminuten hin.

Der menschliche Nachahmungstrieb wird nicht erst durch digitale Bilderfindungen herausgefordert, sondern auch von mechanischen Bewegungsmustern gereizt: Welchen Zauber konnte in der Kindheit etwa die Treppen hinablaufende Spiralfeder namens Slinky entfalten!

Das Spielzeug, benannt nach dem schwedischen Ausdruck für "schleichend und geschmeidig", kam 1945 auf den Markt und verblüffte Kinder wie Erwachsene. Erst Aufnahmen von Hochgeschwindigkeitskameras konnten sein Bewegungsprinzip erklären.

Noch heute wird die Spirale in der Seismologie als Simulationsmodell zur Ausbreitung von Erdstößen benutzt. Jim Carrey hat Slinky im Film "Ace Ventura" ein Denkmal gesetzt, als er es die endlosen Stufen einer Tempelanlage hinabsteigen ließ.

Wenn die Metallbögen von der einen in die andere Hand laufen und dabei sanften Druck ausüben, ist das wunderbar beruhigend, und vermittelt ein Gefühl von Lebendigkeit: Der Werbeclip aus den 1960ern "CLASSIC TV COMMERCIAL - 1960s - SLINKY #3" zeigt die Freude, die dieses simple Spielzeug auslösen konnte.

Und wenn die Feder voller Wurm und Drang eine schiefe Ebene oder Treppe hinuntereilt, lässt sich die animistische Belebung nicht ignorieren: Slinky bewegt sich so biomorph, dass der Mensch sich zur Nachahmung provoziert fühlen musste.

Im Clip "Astonishing Human Slinky" zeigt der rumänische Tanzkünstler Ioan Veniamin Oprea dem Spielzeug seine Grenzen auf.

Durch die im Slinky-Prinzip konstruierten Schläuche kann er seine Gliedmaßen verlängern. Das verleiht ihm unmenschliche Proportionen, und der Zuschauer weiß nie, wo im Kostüm Veniamin sich gerade befindet. Er hat die Spirale studiert, ihre Bewegungen angenommen und übertroffen.

Am Ende enttarnt er sich wie die Macher von "zZz is playing: Grip", als wollten sie stellvertretend für die Menschheit sagen: Wir haben zwar die Welt der Technik erfunden, können es selbst aber immer noch besser.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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