Internetvideo der Woche:Trash mit Traumquote

YouTube hat einen neuen Nummer-eins-Hit: Der Clip zeigt Britney Spears im Bikini, ist extrem schlecht bewertet und wird in den offiziellen Charts nicht aufgeführt. Das meistgesehene Video aller Zeiten in der Kritik.

Christian Kortmann

Das Video besteht nur aus einem abgefilmtem Paparazzi-Foto, auf dem angeblich Britney Spears im roten Bikini an einem Hotel-Pool zu sehen ist. Und doch wurde der Clip "~YouTube Worst Video of All Time~ vote 1 star, leave comment" zum meist gesehenen Video bei YouTube.

Bis er vor einigen Monaten aus der "Most Viewed"-Liste entfernt wurde, tummelte er sich in den obersten Rängen, dort, wo die Publikumsgunst sonst nur Avril Lavigne mit "Girlfriend" und andere Musikclips hinspült, stets in Schach gehalten von der ewigen Nummer eins "Evolution of Dance". Nun überflügelte das "Schlechteste Video aller Zeiten" innerhalb von nur acht Monaten auch diesen Comedy-Tanz-Clip und thront mit einer Abspielzahl von bald 89 Millionen an der Spitze.

In nur sechs Sekunden vereint "YouTube Worst Video of All Time" die Eigenschaften, die YouTube-Inhalten regelmäßig vorgeworfen werden: Es zeigt gestohlenes Material, es zeigt eine Prominente in einer privaten Situation, es ist eine weitere Reproduktion der ohnehin am meisten abgebildeten und am wenigsten singenden Sängerin der Gegenwart - für sich genommen ist es Trash, Bildermüll par excellence.

Dummheit des Schwarms

Das Foto entstand im Peninsula Hotel in Beverly Hills, wo Britney Spears inzwischen Hausverbot haben soll, weil man die Paparazzi fern halten will. Es verstärkt den nicht informativen Charakter des Fotos, dass man Spears auf dem Foto nicht erkennt und nur aufgrund der Zuschreibung glaubt, dass sie es ist. Spears scheint selbst eine Digitalkamera in der Hand zu halten, die Allgegenwart der Abbildungstechnologien ist im Motiv enthalten.

Doch die Form ist wichtiger als der Inhalt: Die Gebrauchsanweisung für den Clip steht im Titel und im "Mission Statement", dem Begleittext: Man solle ihn mit einem Stern, also "poor" (arm) bewerten und einen Kommentar hinterlassen, schreibt der User donotasyoudo, der den Clip eingestellt hat. (Man findet diese Informationen sowie die Abspielzahl, wenn man das Video auf der YouTube-Website anschaut.) Er suchte 3000 Menschen auf der Welt, die sein Video 100 Mal pro Tag anschauen sollten, auf dass es das meistgesehene und am schlechtesten bewertete würde. Bedeutungsarmes Bildmaterial wird in einem kollektiven Spiel der User zur Unterhaltung, die kulturkritische Fragen formuliert: Welchen Schrott gucken wir uns täglich an? Wie gut geht es uns, wenn dafür Zeit bleibt?

Indem sie eine Traumquote für Trash erzeugt, beweist diese Chart-Guerillakunst, dass zwischen Erfolg und Qualität keine notwendige Abhängigkeit besteht. Es ist eine Satire auf die beiden Selektionskriterien, die einen Clip in die YouTube-Spitzenränge befördern, zum einen die Zahl der Aufrufe, zum anderen die Bewertung durch die User.

Weil aber auch dies keine dem Schönen, Guten, Wahren verpflichtete Gänseblümchen-Demokratie ist, stellt das "Worst Video"-Projekt einen Protest gegen die ihren Herrschaftsanspruch aufs Netz ausdehnende Kulturindustrie dar. Denn die Musikindustrie wie die Fernsehsender platzieren nach anfänglicher Ablehnung ihre Produkte fleißig bei YouTube und erhalten meist mehr Aufmerksamkeit als kreative Amateure.

Als Antwort darauf parodiert donotasyoudo die vermeintliche Intelligenz des Schwarms: "Dies ist ein weiteres Beispiel für das Gute, das Menschen tun können, wenn sie zusammenarbeiten!", schreibt er: "Die menschliche Rasse rockt! Besonders die 3000 plus x Menschen auf der ganzen Welt, die dieses Video immer noch mehr als 100 Mal pro Tag anschauen."

Gedanklich enträdert

Der Erkenntnisgewinn aus dieser Dekonstruktion des Mediums Internetvideo wird von den Usern honoriert. Deshalb verbesserte sich die Bewertung des Clips mit dem zunehmendem Erfolg und dem Verständnis für die Idee. Nun, bei 75.000 Stimmabgaben, hat das Video schon anderthalb Sterne, liegt also zwischen "arm" und "nichts Besonderes".

"~YouTube Worst Video of All Time~ vote 1 star, leave comment" ist ein Triumph der Konzeptkunst, denn ein bizarres Video allein sorgt nicht automatisch für Aufmerksamkeit. Das beweist der Clip "balayya sharp shooter", der nicht 89 Millionen, sondern nur 10.000 Mal angeschaut wurde. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem Film des indischen Bollywood-Schauspielers Balakrishna Nandamuri, genannt Balayya. Ob sein Werk gut oder schlecht ist, soll uns nicht beschäftigen, denn vor allem beeindruckt es durch seine Andersartigkeit: Isoliert vom Rest des Spielfilms, entfaltet die Scharfschützenszene einen Geist, aus der die Machart des gesamten Filmes ableitbar ist.

Untermalt von hymnischer Musik rast ein Propellerflugzeug auf den Helden zu. Dieser zieht die Waffen, und die Szenerie wandelt sich zum Computerspiel: Solche Spezialeffekte hat man selten gesehen, und auch der dramaturgische Einfall, das Flugzeug mittels Präzisionsschüssen zu enträdern (logisch, dass die Passagiere sofort zur Seite herausspringen müssen) geht aus diesem Ansatz hervor: Wo in Bildern alles möglich ist, sind auch die Gedanken völlig frei.

Und wo im "Worst Video" Britneys ästhetisches Scheitern durch ein Konzept zum Erfolgsclip wurde, verwandelt sich der Zusammenstoß von Bild und Botschaft hier in große Komik.

"Das Leben der Anderen" live auf der Bühne, am Samstag, dem 14. Juni, ab 22.15 Uhr im Rahmen der "SALZNACHT" in der Black Box im Münchner Gasteig: INTERNET - Die Salzstraße der Gegenwart Wer am Morgen den Computer hochfährt, wird schon sehnsüchtig erwartet oder skrupellos überfallen. Das Web hat eine ganze neue Heldentravestie hervorgebracht. Die Raubritter, die vor 850 Jahren an der Salzstraße lagerten, haben sich in First-Poster, Amateur-Ninjas, Hobby-Hamlets verwandelt. Die neuen skurrilen Schausteller und Profiteure präsentieren täglich ihre unzähligen Videos und Coverversionen über Gott, Google Earth und das Leben in der Röhre. Christian Kortmann diskutiert mit Matthias Günther, Dramaturg an den Münchner Kammerspielen, über aktuelle Netzphänomene.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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