Internetvideo der Woche:Mario Barth sein Bruder

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Die Darwin-win-Strategie bei YouTube: Judson Laipply, Comedy-Tänzer im erfolgreichsten Internetvideo "Evolution of Dance", versilbert seinen Ruhm mit einer Fortsetzung.

Christian Kortmann

Schaut man einen Videoclip an, in dem ein leicht untersetzter mittelalter Mann mit kurzen Haaren, Jeans und einem buntbedruckten T-Shirt auf der Bühne steht, fühlt man sich gleich an Mario Barth erinnert. Tatsächlich verbinden den YouTube-Komiker Judson Laipply und den Olympiastadion-füllenden Comedian die Einfachheit ihrer Mittel wie ihre enorme Popularität. Laipplys Clip "Evolution of Dance", der die Geschichte der Popmusik als Entwicklung unterschiedlichster Tanzstile vorführt, wurde allein bei YouTube mindestens 120 Millionen Mal angeschaut. Die Idee und die Umsetzung sind so eindrücklich, dass sie sogar in der Parodie mit einem animierten Roboter funktionieren.

"The Evolution of Dance" stand lange an der Spitze der offiziellen YouTube-Charts, bevor der Clip von Avril Lavignes "Girlfriend"-Video verdrängt wurde. Zwischenzeitlich war er von einem experimentellen Clip überholt worden, trotzdem listete YouTube "Evolution of Dance" fast zwei Jahre lang auf Platz eins. Denn Judson Laipply ist ein Topstar, auf den das Videoportal stolz ist, weil er die besten Web-2.0-Tugenden verkörpert.

Vom Klub-Künstler stieg Laipply zum globalen Star auf, ohne seinen halbprivaten Rahmen jemals zu verlassen. Vorher war der Mann aus Bucyrus, Ohio, nur einer von vielen, die mit derlei Scharaden ihr Geld auf Showbühnen verdienen, doch dann stellte er im April 2006 seinen Clip ins Netz und nahm YouTube im Sturm, obwohl "Evolution of Dance" trotz Laipplys verdächtigem Softdrink-T-Shirt nach derzeitigem Wissensstand von keiner Kampagne gefördert wurde.

Der Clip kommt mit einfachen pantomimischen Mitteln aus, ist so originell wie verständlich. Er vereint Elemente, die man einzeln kennt, aber noch nie im unmittelbaren Zusammenhang gesehen hat. Für diese Bildsprache gibt es keine kulturellen Grenzen, sie ist wahrscheinlich auch dann noch amüsant, wenn der Zuschauer keinen der Originaltänze kennt. Das böse, böse Internet erscheint hier familientauglich wie ein Jahrmarkt am Sonntagnachmittag.

Mit "Evolution of Dance" vergnügt man sich nicht nur, sondern gerät vielleicht sogar ins Meditieren. Denn die Sinne bekommen genau so viele Impulse serviert - ein scherenschnittartiges Layout, auf nonverbale Kommunikation, Musik und Bewegung beschränkte Information -, dass sie nicht überreizt werden, man sich aber auch nicht langweilt.

Nun gibt es eine Fortsetzung von "Evolution of Dance", obwohl Laipply die bildkräftigsten Tänze, vom Rock 'n' Roll über "YMCA" bis AC/DC, schon in den sechs Minuten des ersten Teils abgehandelt hat. Wieder fällt ein kreisrunder Scheinwerferspot auf eine dunkle Bühne, wieder führt ein Mann sein Tanz-Karaoke auf: Von einem Werbepartner unterstützt, steigt Judson Laipply noch einmal in den Ring, um seinen Ruhm zu versilbern. Nach dem Um-die-Welt-Tänzer Matt Harding ist dies das zweite prominente YouTube-Comeback in wenigen Monaten. Warum sollten überflüssige Fortsetzungen, längst der Fluch des Kinos, dem neuen Medium erspart bleiben?

Der augenfälligste Nachteil von "Evolution of Dance 2" besteht darin, dass bei den Tanzstilen Epoche und Interpret nicht mehr eindeutig zuzuordnen sind. Denn das war der Clou seines ersten Videos: dass man für die zeitliche Sortierung der Tänze kein Pop-Experte sein musste, sondern diese aus dem kollektiven Wissen heraus geleistet werden konnte. Stattdessen demonstriert der Forsetzungsclip Laipplys Abhängigkeit von den Originalen.

B-Seite der Evolution

Denn jetzt sind es oft nur noch die Bewegungen an sich, die drollig wirken und für Lacher sorgen: Männer, die so unscheinbar aussehen wie Laipply, beherrschen eigentlich, um im Mario Barth'schen Weltmodell zu bleiben, nicht derart präzis-zackige Bewegungen, mit denen er Pop-Choreographien zitiert. Judson tanzt Breakdance so perfekt wie den Michael-Jackson-Moonwalk, während andere mittelalte Männer in Jeans und T-Shirt lieber mit Bierflasche am Rand der Tanzfläche stehen. Der Clip "Evolution of Dance for the rest of us" stellt diese diese Typologie dar.

Judson Laipply sagt, von der Planung bis zur Umsetzung des Sequels habe es zwei Jahre gedauert, weil es schwierig gewesen sei, die Rechte an den Songs einzuholen. Und so wirkt sein Clip auch, wie eine Anthologie, die ein musikalisches Jahrzehnt mit lauter B-Seiten von Hit-Singles darstellt. Vor allem aber sind keine Evolutionssprünge des Tanzens mehr zu erkennen. Dabei bietet das Darwin-Jahr 2009 doch eine ideale Evolutionsatmosphäre. Wenn Laipply die Fittest verwehrt blieben, hätte er ruhig die verrücktesten Mutationen auf der Tanzfläche vivisezieren können.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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