Internetvideo der Woche:Hengst und Schrecken in Las Vegas

Patches liebt Cheeseburger am Drive-in-Schalter, Flaschenbier und Fernseh-Western: das coolste Pferd der Welt und die letzten wilden Mustangs in der Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Wie vor einigen Wochen versprochen, besuchen wir in dieser Folge von "Das Leben der Anderen" unseren inneren Ponyhof. Damals hatte sich ein Video mit dem verwegenen Titel "Dancing man wearing a horse mask cooks wild mushrooms" in die Pferde-Recherche gedrängt: Aktionskunst, Irrsinn, Drogenmissbrauch - keine Spur vom freundschaftlichen Stallgeruch, den Fury, Kleiner Onkel, Black Beauty und die anderen Pferde unserer Kindheit verströmten. Nun aber stellt sich endlich die grasende Ruhe ein, unser Herzschlag wird langsamer, poch-poch, poch-poch, und der Flash-Player-Vorhang öffnet sich für Patches, das coolste Pferd der Welt.

Tiere, die ein Fortbewegungsmittel benutzen, sind im Genre Internetvideo nichts Besonderes, man denke nur an Skateboard-Bulldogge Tyson. Doch die Lässigkeit, mit der Patches neben den Cowboys im schimmelfarbenen Cabrio sitzt, hat darüber hinaus darstellerische Qualitäten, ja, der Hengst scheint sogar einen Ellenbogen raushängen zu lassen, als wüsste er, dass es darauf ankommt, gut auszusehen. Fluffig weht seine Mähne im Fahrtwind, die matte Bequemlichkeit des Nicht-traben-oder-galoppieren-Müssens umspielt seine Augen. Die Windschutzscheibe hat die ideale Höhe, um vom Rücksitz aus das Kinn aufzulegen, ist ja auch schwer so ein Pferdekopf.

Die Rettungstiere des Misanthropen

Für Patches ist das Cabriofahren nicht nur Easy Riding, es ist der Einstieg in die automobile US-amerikanische Kultur mit ihren Verheißungen wie Fast-Food am Drive-in-Schalter, wo Patches wiehernd bestellt. Schön, dass seine Chauffeure seine Leidenschaft für Cheeseburger unterstützen. Ebenso gerne sieht Patches Western im Fernsehen, holt Bier aus dem Kühlschrank, geht ans Telefon - und fährt manchmal sogar Wasserski.

Klar, es handelt sich um antrainierte Kunststücke, aber die Gelassenheit des Tieres verrät, dass es sich die Häuslichkeit gerne gefallen lässt. Wenn Patches zu Bett sinkt und sich wie in einer typischen Zirkusnummer die Decke bis zum Hals zieht, geht ein langer Tag im anstrengenden American Way of Life zu Ende. 2006 starb Patches im Alter von 24 Jahren, doch sein Clip hat nicht aufgehört, sich im Netz zu verbreiten, ein pferdegemäßer Langzeit-Treck.

Dem perfekt domestizierten Pferd steht das Bild des wilden Mustangs gegenüber, nicht nur in der Zigarettenwerbung über das imaginäre Land, "where horses still run free". Diese Werbung berührt uns noch immer, obwohl wir wissen, dass die dargestellte Welt längst passé ist, denn sie trifft den Nerv für einen inneren Ort.

Um diese Faszination zu verstehen, muss man sich von den gängigen Bildern von Pferden im Reitsport oder auf Teenager-Postern lösen und dorthin blicken, wo Pferde für die Freiheit des Geistes und die Möglichkeit eines besseren Lebens stehen: In Jonathan Swifts Roman "Gullivers Reisen" kehrt der Protagonist am Ende tiefbewegt nach England zurück. Auf seiner letzten Reise hat er die Houyhnhnms kennengelernt: intelligente Pferde, die in einer pferderegierten Welt leben, in der die Menschen zu verrohten Kreaturen namens Yahoos mutiert sind, und nicht ganz zu Unrecht als Plage der Erde gelten. Gulliver zieht sich aus der menschlichen Gesellschaft zurück und verbringt seine Zeit mit Pferden, die zu Rettungstieren für einen Misanthropen werden.

Die letzten wilden Pferde der Erde muss man leider lange suchen, auch die letzten Mustangs Nordamerikas, diese "lebenden Symbole des historischen Westens und seines Pioniergeistes", wie der US-Kongress sie bezeichnete. Um so größer ist der Zauber des Clips "Wild Mustangs of Cold Creek", der in aller Stille beginnt und in einem Fünf-Minuten-Epos den Alltag der Wildpferde von Cold Creek darstellt. Sie kommen regelmäßig zu diesem kleinen Ort nördlich von Las Vegas, dessen Name "Kalter Bach" bedeutet, um aus jenem Fluss zu trinken. Deshalb ist der Trott der schwarzfelligen Banden über die Straße so zielgerichtet.

Ein Königreich für ein Pferd

Wenn man bedenkt, dass der Mensch die Zahl der Mustangs und ihren Lebenraum dezimiert hat, empfindet man es wie einst Gulliver als peinlich, dass die Tiere dem Menschen trotz allem noch Vertrauen schenken, neugierig in die Kamera blicken und sich sogar streicheln lassen. Diese Szenen aus der amerikanischen Traumlandschaft wirken zur Unschärfe vergrößert wie auf Werken von Richard Prince. Die Farben sind verblasst wie in 1970er-Jahre-Polaroids, als stammten die Bilder aus einer bereits vergangenen Welt - "Take the long way home" singen Supertramp im Clip über diesen unumkehrbaren Rückweg zur Natur.

Der Untertitel des Clips, "Mustangs living the life", verdeutlicht, wie respektvoll und verständig der Filmemacher "linustheferret" ans Werk gegangen ist: Er zeigt Pferde, die einfach ihr Leben leben. Wir sehen diese Tiere so wie wir unsere Eltern auf Super-8-Aufnahmen sehen, aus einer Zeit, als sie so alt waren wie wir heute: sprachlos, stumm, was sie damals sagten, ist nicht mehr wichtig, aber um so intensiver ist der Eindruck des puren Seins.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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