Internetvideo der Woche:Granate am Brett

Der letzte Schlag verliert: Wer den ultimativen Thrill sucht, spielt Tischtennis mit einer Handgranate. Dabei ist manchmal sogar normales Pingpong zu hart.

Christian Kortmann

Meiner ersten Gang trat ich im Kindergartenalter bei. Wir trafen uns jeden Nachmittag und verheerten die Nachbarschaft. Einer von uns hatte nur selten Zeit. Er hieß Ingo, auch Pingpong-Ingo oder kurz Pingo genannt, weil er mal ein großer Tischtennisspieler werden sollte. Deshalb musste er meistens trainieren, im Tischtennisverein oder zu Hause; an Trainingsgerät und Ansporn ließen es seine Eltern nicht fehlen. Im winzigen Keller stand eine Tischtennisplatte, Erwachsene mussten den Kopf einziehen und Ingo musste hier ackern. Stundenlang stand sein Vater gebückt an der Platte und spielte ihm Bälle zu, die Pingo mit voller Wucht zurückschmetterte.

Zu besonderen Anlässen durfte unsere Gang den Tischtenniskeller betreten. Wir waren aber nur zu Gast, um sukzessive von Pingo mit vernichtenden Niederlagen abgefertigt zu werden. Ich merkte, dass Tischtennis keinesfalls mit der Leichtigkeit zu spielen war, die das Spielgerät, dieser Ball, der instabil wie ein Taubenei ist und auf den leichtesten Fingerdruck mit einer Delle reagiert, vermuten ließ.

Der für sein Alter sehr kräftige Ingo spielte Tischtennis mit einer Energie und Härte, die auf uns wie Zauberei wirkte. Wenn er zuschlug, sahen wir den Ball nicht mehr und hörten nur die Punktezählung des schiedsrichtenden Vaters: "Sieben zu null; elf zu eins; fünfzehn zu drei" und so weiter.

Wenn wir hart zuschlugen, flog der Ball über die Platte hinaus gegen die Kellerwände oder er schoss völlig fehlkoordiniert ins Netz. Pingos Geheimnis bestand in der Technik, die Kraft vom Körper auf den Ball zu übertragen, so dass er auch noch aus weiter Entfernung und extremen Winkeln die Platte traf.

Zur Illustration des kategoriellen Unterschieds zwischen luftig leichtem Pingpong und hartem Tischtennis verlassen wir die engen Kellerräume der Jugend und begeben uns in die großen Hallen des Profisports. Im Clip "Table Tennis -Spectacular!!" liefern sich Jan-Ove Waldner und Jörgen Persson einen artistischen Kampf um einen einzigen Punkt. Waldner, der zunächst in die Defensive gerät, verfügt über eine Verteidigungstechnik, mit der er die härtesten Schmetterbälle von Persson returniert, worüber er in manchen Momenten selbst staunt.

Dieser Spieler ist so geübt, dass er mehr kann, als er weiß. Immer wieder landet seine Ballonabwehr auf der Platte, als habe Waldner magische Kontrolle über den Effet, die Rotation des Balles. Die Mondbälle segeln in immer höheren Bögen zurück; aus der Vogelperspektivenkamera, deren Blickfeld sie verlassen, sieht es aus, als fielen sie einfach vom Himmel. Und am Ende kann Waldner sogar eine Attacke setzen.

Das Musikvideo zum Song "Bastard" der Elektro-Band Metal On Metal interpretiert die im Tischtennis angelegte Spannung, wer in einem langen Ballwechsel den Punkt beziehungsweise den ersten Fehler macht, auf radikale Weise. Zwei Frauen spielen vor einem durch eine Glasscheibe geschützten Oberklassenpublikum in Smoking und Abendkleid mit einem Objekt, das noch sensibler zu handhaben ist als ein Tischtennisball: mit einer Handgranate, die sich fast genauso gut in Effet versetzen lässt.

Auf drei Minuten gedehnt sehen wir die wenigen Sekunden, die nach dem Auslösen der Granate bis zu ihrer Explosion verbleiben. Wie in allen Zeitlupenvideos besteht die Spannung auch in der Frage, ob sich tatsächlich das schlimmstmögliche Ende ereignen wird.

Ähnlich anderen dystopischen Spielshow-Szenarien, etwa Stephen Kings "Running Man", kann man den Clip als Kritik am modernen Gladiatorentum und seinem saturierten Publikum begreifen. Aber vor allem ist es eine Meditation über den faszinierenden dynamisch-explosiven Charakter des Ballspiels Tischtennis. Wie vor jedem sportlichen Duell gibt es vorher zwar allerlei Voraussagen, aber keine Gewissheit, wer den nächsten Punkt macht, wer gewinnt und ob gänzlich Unerwartetes passiert.

Eine der schärfsten realen Waffen des Tischtennisprofis ist sein Aufschlag. Im Clip "Ma Lin Serve" sieht man die Disziplin und die Monotonie des Aufschlagtrainings eines Elitespielers wie Ma Lin, aber auch das beeindruckende Ergebnis: Der Ball taucht wie ein Blitz aus dem Nichts auf der Seite des Gegners auf, macht aber sofort kehrt, um in seinen Bau zurückzuhuschen, wie ein Frettchen, das einen Feind erblickt hat. So viel Rückwärtsdrall macht schon beim Zugucken nervös.

"Ich würde ja gerne sagen, dass das cool ist", schreibt der User Dolcecinnamon unter dem Clip, "aber dann fällt mir ein, dass es Tischtennis ist, lol." Das habe ich früher auch gedacht, bis ich zum ersten Mal in Pingos Übungskeller vermöbelt wurde. Tischtennis ist keine Miniaturform von Tennis, sondern eine eigene große Kunst.

Eine demütigende Strafe für Tischtennis-Ignoranz bestünde wohl darin, wenn Dolcecinnamon versuchen müsste, von 100 Aufschlägen von Ma Lin einen einzigen zurück übers Netz zu spielen.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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