Internet-Literatur:Ein Roman per Whatsapp

Tilman Rammstedt

Dem neuen Roman von Tilman Rammstedt konnten die Leser per E-Mail und Whatsapp beim Entstehen zusehen.

(Foto: Carolin Saage)

Und täglich grüßt der Schriftsteller: Der Autor Tilman Rammstedt lässt sich in seinem Projekt "Morgen mehr" beim Romanschreiben beobachten - und helfen.

Von Thorsten Glotzmann

Am 11. Januar begann Tilman Rammstedt, seinen neuen Roman zu schreiben, und zwar unter den Augen seiner Leser, die dem Buch seither per E-Mail oder Whatsapp beim Entstehen zusehen dürfen: auf dem Smartphone in der U-Bahn, im Café oder auch - dank der vom Autor eingelesenen Audioversionen - mit Kopfhörern im Bett.

Mit zwei Trailern, einer Fotoserie und einer Crowdfunding-Aktion warb der Hanser-Verlag für das Experiment, das auf eine junge serienhungrige, netflixaffine und vor allem digitale Leserschaft zugeschnitten ist. Gegen eine geringe Gebühr wird der Lesestoff drei Monate lang in homöopathischen Dosen verabreicht, zwei bis fünf Seiten täglich. Ins Koma lesen kann man sich damit nicht, aber zu einem schönen Morgenritual eignet sich das Projekt allemal.

Dass ohne sanften Druck bei diesem Autor nichts geht, gehört zur Vermarktung

Schon im Titel "Morgen mehr" stecken Grundmotive Rammstedt'schen Schreibens: die programmatische Prokrastination, die Verzweiflungspose des Zauderers und der aus klassischen Serienformaten bekannte Cliffhanger, der zum Dranbleiben motiviert. Eine Erzählstrategie, die aus "Tausendundeine Nacht" über die Feuilletonromane à la Dickens bis hin zu den Daily Soaps bekannt ist und die sich Rammstedt also nicht ausgedacht hat.

Zur Vermarktung des Projekts gehört die gerne wiederholte Erzählung, der Autor könne sich ohne sanften Druck von außen einfach nicht zum Schreiben durchringen, sodass man ihn gewissermaßen gewaltsam an seinen Schreibtisch ketten müsse.

Eine komplizierte Geburt

Los ging es mit einem raffinierten ersten Kapitel, "in dem es aufgrund eines kleinen Problems noch nicht losgehen kann". Rammstedt, der virtuos verschrobene Scheherazade-Imitator, setzt an zum selbstreflexiven Vorspiel: "Ich weiß alles. Ich weiß den Anfang, den Mittelteil und den Schluss."

Da schreibt ein Autor, der sich angeblich eine Storyline zurechtgelegt hat, da spricht aber auch ein Erzähler, dem das eigene Leben vor Augen steht: von der Geburt unter Silvesterraketen bis hin zum gelblichen Provinzkrankenhauszimmer, in dem alles zu Ende geht. "Es wird ein volles Leben gewesen sein, so wie ein Leben sich halt füllt", sagt der Erzähler. "Von all dem will ich erzählen, an all das will ich mich erinnern, an dieses Leben, das schon daliegt, bereitliegt, das doch nur mir passt, und es gibt bislang nur ein Problem: Ich bin noch nicht geboren."

Das Scheitern als Konstante

Ein noch ungeborenes Etwas spricht aus dem Nichts und will in die Welt hinaus, teilt also das Schicksal des Buches, das es ja auch noch nicht gibt. Während der Autor Rammstedt nun Tag für Tag einen Roman ins Internet und damit in die Welt schreibt, ist der Erzähler darum bemüht, Vater und Mutter Anfang der Siebzigerjahre zusammenzubringen und die eigene Zeugung zu veranlassen.

Die Wendungen, die die Handlung dann nimmt, sind mitunter abenteuerlich, manches Kapitel ist im Poetry-Slam-Duktus auf die schnelle Pointe zugeschrieben, doch die fortlaufende Veröffentlichung des Textes erlaubt keinen Blick zurück. Dabei ist Rammstedt zu sehr einem Plot und der eigenen Fantasie verpflichtet, als dass man "Morgen mehr" mit den literarischen Blogprojekten eines Rainald Goetz oder Joachim Bessing vergleichen könnte. Es ist kein wahnwitziges Loslabern, das sich an der Tageszeitungsaktualität abarbeitet, kein in sich gekehrtes Schreiben, das aus alltäglichen Beobachtungen schöpft.

Literatur als Debatte

Innovativ ist das Projekt auch deswegen, weil das zahlende Publikum den Schreibprozess mit Kommentaren begleiten kann. Unter den Kommentatoren finden sich vorwiegend Rammstedt-Enthusiasten, die über die Namen der Protagonisten diskutieren oder eigenwillige Querverbindungen ziehen. Lustig wird es meist dann, wenn sich Rammstedt selbst oder sein Verleger Jo Lendle in die Debatte einklinken.

Dass das alles schrecklich scheitern kann, wie immer wieder betont wird, ist in diesem Experiment nicht nur mitgedacht, es ist eine Konstante in Rammstedts Werk. Man erinnere sich an Keith Stapperpfennig, der sich unter seinen Schreibtisch verkriecht und von dort aus eine Chinareise mit dem toten Großvater imaginiert ("Der Kaiser von China", 2008) oder daran, wie Tilman Rammstedt Bruce Willis per Mail davon zu überzeugen versucht, eine Rolle in seinem Roman zu spielen ("Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters", 2012). Doch immer entsteht gerade daraus wunderbare Literatur. Ebendas kann auch aus "Morgen mehr" werden, falls das Buch im Frühjahr fertig sein sollte. Bis dahin bleibt es beim schönen Morgenritual.

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