Internet:Der Zauber im Netz

Photographer takes pictures of an installation titled 'Infinity Mirrored Room - Filled With the Brilliance of Life' by Japanese artist Yayoi Kusama during her exhibition at the Rufino Tamayo museum in Mexico City

Man kann das Internet als Kunstwerk verstehen, in dem jeder Einzelne endlos auf alle anderen Bezug nimmt, so wie die Lichtpunkte in Yayoi Kusamas Spiegelsaal.

(Foto: Tomas Bravo/Reuters)

Man sollte das Internet nicht nur als technologischen Durchbruch und wirtschaftlichen Erfolg betrachten. Es ist auch das größte Gemeinschaftskunstwerk aller Zeiten.

Von Virginia Heffernan

Während der letzten dreißig Jahre haben sich zwei Sichtweisen auf das Internet durchgesetzt: Auf der einen Seite das Internet als unaufhaltsame Invasion, die unsere Gedanken und Gefühle zerstört. Auf der anderen Seite das Netz als etwas Allgegenwärtiges, so transparent und selbstverständlich wie Atemluft. Wobei es eine gewisse Scheu gibt, das Internet nicht nur als eine Technologie, sondern als etwas Großes und Ganzes zu betrachten. Das AP Stylebook, die Rechtschreibbibel für amerikanische Journalisten, hat auch gerade die Empfehlung ausgesprochen, Internet nur noch in Kleinbuchstaben zu schreiben und nicht mehr, wie bisher üblich, mit großem i.

Die Großschreibung wird im Englischen oft für heilige Begriffe wie God (Gott) verwendet. Wenn wir das große i nun fallen lassen, ist das ein weiterer Versuch, das Internet zu normalisieren, auch wenn uns unser Bauchgefühl sagt, dass es eigentlich etwas sehr Gewaltiges ist, Ausdruck einer neuen Form der Zivilisation und einer neuen Entwicklungsstufe der Menschheit.

Nicht nur das. Meiner Meinung nach ist das Internet ein immenses Gemeinschafts-Kunstprojekt. Milliarden von uns tragen in jeder Sekunde dazu bei; mit jedem Foto auf Instagram, jedem Like, jedem Post, jedem Tweet, jeder Bewertung auf Ebay, jedem Video- oder Song-Stream erzeugen, konsumieren und bewerten wir Kunst, egal ob Fotografie, Design, Lyrik, Prosa, Film und Musik.

Da allerdings stellt sich die Frage, warum wir uns an diesem Gesamtkunstwerk so engagiert, manchmal fast zwanghaft beteiligen, während wir es gleichzeitig trivialisieren oder gar verteufeln. Vorschlag: Wie wäre es, wenn wir die Klage, das Internet sei eine Gesundheitsgefahr, ein Kontrollmechanismus oder ein Instrument der Kommerzialisierung aller Lebensreiche, kurz mal beiseiteließen? Wenn wir das Internet in diesem kurzen Moment, in dem wir etwas auf Snapchat oder Pinterest posten, als Ausdrucksform betrachten, als Herausforderung, als Aufruf, uns eloquenter auszudrücken, origineller zu sein und wertvoller Teil der wahrscheinlich größten Gemeinschaft aller Zeiten zu werden?

Das Internet ist ein Meisterwerk. Das bedeutet nicht, dass es unfehlbar ist

Mein Vorschlag wäre, das Internet nicht weiter kleinzuschweigen. Man muss ja nicht gleich blind den "Fortschritt" oder die "Befreiung der Informationen" bejubeln, wie in der Anfangszeit des Web in den Neunzigerjahren. Wir sollten die Vielfalt unserer Weltbilder einbringen, unser kritisches Denken (vor allem die geisteswissenschaftlichen Methoden) aktivieren und diesem Unternehmen moralisch, politisch und ästhetisch Sinn geben. Weil wir uns unfassbar glücklich schätzen können, in einem Universum gelandet zu sein, das kaum dem eigenen Urknall entwachsen ist, weswegen wir die Macht haben, eine ganz neue Daseinsform mitzugestalten.

Mit kritischem Denken meine ich aber ganz bestimmt nicht das übliche Nörgeln. Ich habe keine Lust mehr, mit anderen Eltern herumzujammern, wie beunruhigend es doch ist, dass unsere Kinder dauernd auf ihre Handys starren, dass sie uns nicht mehr zuhören und online Pornos gucken. Seufzen und Kopfschütteln sind jedenfalls kein Zeichen für tiefere Erkenntnisse. Wir sollten auch mit diesem ewigen Lamento aufhören, dass dieser oder jener Teil des analogen Lebens - Unterhaltungen, die Freude an der Natur und der Einsamkeit - für immer verloren geht. Überhaupt, wer weiß das schon? Im finsteren Mittelalter hieß es, dass die Leute nicht mehr richtig lesen können. Und dann kam die Renaissance.

Viel zu oft gebrauchen wir die engstirnigsten Argumente, gerne im Jargon von Geschäftsstrategien oder Neurowissenschaften (zwei weitgehend ungeprüften Disziplinen, die vor allem Rhetorik verbreiten), um die Debatten rund um das Internet in zwei Muster zu zwingen: "So wird man mit dem Internet reich!" oder "So vergiftet es euer Leben!" Das ist Propaganda und Panikmache, auch wenn das seit Jahren Bücher über das Internet füllt, die Angst und Hypochondrie schüren. Das macht es fast unmöglich zu erkennen, was das Internet tatsächlich mal sein könnte.

Ich halte das ironischerweise für ein Versäumnis eben jener schlauen Köpfe, die das außergewöhnlichste und forderndste Meisterwerk unserer Zeit erschaffen. Kurz gesagt: Bisher haben wir eine komplett neue Epoche aus der Perspektive des kleinen Mannes betrachtet - wo man im neuen Universum die Burger herbekommt, wie gruselig der neue Beamte ist. Stattdessen sollten wir lieber eine umfangreiche und optimistische Bestandsaufnahme davon machen, wie sich das digitale Leben auf der Erde (und darüber hinaus) eigentlich entwickelt.

Jawohl. Optimistisch. Damit meine ich nicht "Mach mal eine App, Junge!" oder "Versuch's mal mit SEO!" Die Unternehmenswelt und ihre Versprechen der neuen Wirtschaft sind ähnlich leer wie das Vokabular des Vor-Internet-Zeitalters. Ich habe meine Dissertation über das Finanzwesen und Literatur im "Gilded Age" geschrieben, der Blütezeit der amerikanischen Wirtschaft Ende des 19. Jahrhunderts. Wenn Sie glauben, medium.com sei voller "Werde reich"-Geschwafel, hätten Sie mal hören sollen, was man in Zeiten von Rockefeller und Morgan so am Stammtisch zu hören bekam.

Nein, mit optimistisch meine ich viel mehr als aggressive Marktstrategien. Ich meine damit eine aufrichtige Ehrfurcht vor unserer noch jungen digitalen Welt, die erst seit dreißig Jahren besteht ,und die es erst seit zehn Jahren in ihrer mobilen Form gibt, die wir aber schon als Lebensweise angenommen haben. Die Ehrfurcht, die ich meine, nimmt sich Zeit, dieses gewaltige Phänomen zu betrachten und seine Erhabenheit zu bestimmen. Ja, ich meine Erhabenheit - seine Schönheit und sein Grauen. Seine Verzückung und seine Qual. Seine Magie und seinen Verlust.

Das Internet ist das große Meisterwerk der Zivilisation. Das bedeutet ja nicht, dass es unfehlbar ist und keinen großen Schaden anrichten kann. Aber als Artefakt steht es in direkter Reihe mit den Pyramiden, dem Aquädukt, Stonehenge, der Landwirtschaft, der Straße, der Druckerpresse, dem Nationalstaat, der Magna Carta, dem Spielfilm, dem Automobil, dem Telefon, dem Telegrafen, dem Fernseher, dem Chanel-Kostüm, dem Flugzeug, der Malerei, der Pille, der Waschmaschine, dem Hochhaus und gekochtem Fleisch. Als Idee konkurriert es mit dem Monotheismus.

Das Netz hat eine eigene Logik, ein eigenes Tempo und eine eigene Befindlichkeit

So wie bei Friedrich Nietzsche der Mensch die Wissenschaft erschuf und diese Gott tötete, hat die analoge Kultur, die Bücher, Filme, Kompasse und Zeitmesser der Wissenschaft die digitale Kultur erschaffen und die digitale Kultur ist dann an ihre Stelle getreten. Die Verdrängung ging schnell. Aber wo stehen wir?

"Magic" (Magie) ist ein Wort, das sich Apple rigoros zu eigen gemacht hat. Das iPad wurde als "magisches und revolutionäres Gerät" angekündigt. "Magie" ist in der Kunst ein zentraler Begriff. Maschinensprache gilt allerdings als magisch, wenn sie einfach ist, aber komplexe Funktionen umsetzt. Das Internet ist deswegen mustergültige Magie. Es verwandelt Erfahrungen aus der physischen Welt, die hochgradig stofflich waren - wie etwa Briefmarken abzulecken, Wecker aufzuziehen oder mit dem Auto zum Einkaufen zu fahren - in reibungslose, schwerelose und fantastische Abstraktionen. Lawrence Lessig formuliert es so: "Die digitale Welt hat mehr mit der Ideenwelt als mit der Welt der Dinge gemeinsam."

Trotzdem ist das ständige Gefühl des Verlustes immer noch da. Die Magie des Internets (das Verschwinden der physischen Welt, um einer Ideenwelt Platz zu machen) ist nicht nur reines Vergnügen. Uns scheint etwas Wertvolles und Identitätsstiftendes aus unserem analogen Leben zu fehlen. Ist das ein handschriftlicher Brief? Ein Telefonanruf aus dem Festnetz? Die Qualität von Zelluloid, einer mehrbändigen Enzyklopädie oder eines ledergebundener Terminkalenders? Eine Denkweise, Seinsform oder eine bestimmte Art und Weise, sich zu verlieben?

Zwischen zwei Diskursen, zwei Sprachen, zwei Ordnungen geht immer etwas verloren. Ob wir es zugeben wollen oder nicht, das Internet und seine Artefakte sind nicht wie ihre kulturellen Vorgänger. Sie sind nicht einmal eine grobe Übersetzung oder gar eine Fehlinterpretation dieser Vorgänger. Das Internet hat eine eigene Logik, ein eigenes Tempo, eine Ausdrucksweise, eine Farbpalette, eine Politik und eine eigene Befindlichkeit. Fast zwei Milliarden Menschen haben sich im Internet niedergelassen. Einige zögerten, einige waren begeistert, einige wehrten sich mit Händen und Füßen dagegen. Genau diese Transformation des Alltags birgt magische Momente und zugleich ein unvermeidbares Gefühl von Verlust und Mangel. Deswegen ist auch jede Untersuchung der digitalen Kultur, die sich nur mit ihrem Zauber beschäftigt, reine Propaganda und wird ihr nicht gerecht. Diesen Fehler dürfen wir nicht machen.

Als ich das Internet vor dreißig Jahren zum ersten Mal entdeckte, war es nicht leicht zu finden. Es war kein Franchise-Massenprodukt wie das heutige Web. Es war ein nervöses Hinterzimmer voll heimlichtuerischer Geistlicher. Man stolperte zufällig hinein. Die Hard- und Software der Computer war in den Siebzigerjahren das Werk von schlauen Ingenieuren, die Computer für alles verwendeten: Musik, Textverarbeitung, Architektur und Filme. Die langsamen und unpraktischen Netzwerke waren damals nicht besonders nutzerfreundlich. Das waren sogenannte "eve"-Netzwerke, die alle mit Arpanet verwandt waren, einem Projekt der "Advanced Research Projects Agency" der amerikanischen Regierung.

Natürlich war das Internet zu Beginn vor allem ein unterhaltsames Spiel für Geheimdienstler und Akademiker des Kalten Krieges. Aber es war auch Normalsterblichen möglich, über das frühe Internet zu stolpern. Ich weiß das, weil ich selbst darüber stolperte. Xcaliber war eine Vorstufe zu sozialen Netzen, die am Dartmouth College entwickelt worden war. Zur Blütezeit des "Dungeons & Dragons"-Spiels sprachen seine Anspielungen an die Artus-Sage sowohl Hacker als auch Mittzwanziger an. Es wurde ursprünglich entwickelt, um die Kommunikation zwischen den verschiedenen akademischen und wissenschaftlichen Einrichtungen zu erleichtern. Die teilten sich zunächst den Großrechner von Dartmouth, einem dieser urzeitlichen Ungetüme in einem Käfig aus kugelsicherem Plexiglas. Jeden Tag wählten ein paar Hundert Leute diesen Großrechner an, legten ihre Telefonhörer auf Akustikkoppler, und warteten auf ein fremdartiges Signal, das damals noch nicht ungewohnte Schnarren und Knarzen der Datenübertragung.

Als Kind halfen mir ein paar Dartmouth-Studenten dabei, das zu hacken. Als ich 13 wurde, war ich mir sicher, dass ich jede einzelne Person, die online war, kannte. Der meistbesuchte Chatroom, Conference XYZ, verstärkte das Fantasyelement von Xcaliber: Jede Versammlung hatte mehrere Level und einen selbsternannten Vorsitzenden, der Chat-Teilnehmer ausschließen konnte, wenn er sie nicht mochte. Die Chat-Teilnehmer kommunizierten oft in einem merkwürdigen Led-Zeppelin-artigen Duktus, sprachen von Maiden und Rössern und verschickten mit dem "Allen antworten"-Knopf Mobbingnachrichten in brüllenden Großbuchstaben.

Die Geschichte der ersten Computernetzwerke wird meistens als Technik- und Wirtschaftsgeschichte erzählt. Aber Conference XYZ war weder ein technisches Experiment noch ein reines Kulturerlebnis. Was mich und die anderen Nutzer damals vor allem faszinierte, waren sein Tonfall und seine Stimmung. Auf der Suche nach einer Gemeinschaft halfen wir in gewissem Sinne auch mit, eine Kultur aufzubauen. Heute ist diese Kultur im Großformat online zu finden.

Conference XYZ ging 1986 ein. Jahrelang verdrängte ich die Erinnerungen an Xcaliber. Dann kamen sie in Bruchstücken wieder: der merkwürdige Jargon, den wir entwickelten, das wunderbare Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, die Schimpfwörter; die Witze, die Geschwindigkeit.

Was ich für eine kurze Flucht aus der Realität des Alltags hielt, war in Wahrheit der Beginn eines der größten Kulturphänomene meines Lebens. Wenn es jemals gerechtfertigt ist, von etwas zu sagen, dass es "alles verändert" hat, dann kann man das über das Internet sagen. In diesem Kulturwandel steht unsere Lebensweise auf dem Spiel, unsere Denkweise, die Art, wie wir lieben, sprechen und kämpfen - weltweit.

Das Internet ist inzwischen fester Bestandteil unseres Lebens. Es ist an der Zeit, es zu verstehen. Und zwar nicht nur als Kuriosität, oder als weiteren Eintrag in die Annalen der Technik oder der Wirtschaft, sondern als neueste und mächtigste Erweiterung und Ausdrucksform dieses großartigen Projekts, Mensch zu sein.

Die Autorin ist Kulturkritikerin und lebt in Brooklyn. Ihr Buch "Magic and Loss: The Internet as Art" ist gerade auf Englisch bei Simon & Schuster erschienen. Aus dem Englischen von Sofia Glasl.

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