Innovation gegen Tradition:Bleibt alles anders

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Reformen sind Murks - Innovationen sind gefragt. Politiker von Rechts und Links lieben Innovationen. Doch man täusche sich nicht: Der harte Kern gerade dieses Begriffs ist erzkapitalistisch. Wo bleibt eigentlich die Tradition? Dies ist der letzte Teil der SZ-Serie "Der große Graben".

Gustav Seibt

Große soziale Konflikte spiegeln sich gern in großen Begriffen. "Arbeit" und "Kapital", "Freiheit" und "Gleichheit", "Menschenrechte", "Gerechtigkeit", aber auch Formeln wie "ein Mann, eine Stimme" sind solche kurzen Wortketten, die verwickelte gesellschaftliche Konstellationen vereinfachen, anschaubar und politisierbar machen.

(Foto: N/A)

Wörter sind Waffen. Jede Gesellschaft verfügt über wenigstens rudimentäre Formen von Öffentlichkeit, und selbst autoritäre, traditionale und legitimistische Systeme müssen benennen und erklären, was ist und sein soll. Vor allem aber werden Begriffe gebraucht von den Bewegungen, die gegen die hergebrachte Ordnung aufbegehren und etwas Neues erstreben - selbst wenn dieses Neue als Rückkehr zu einem idealen Alten dargestellt wird.

Kinderhaben als Pflicht

Daher ist es kein trivialer Befund, wenn man feststellt, dass die gegenwärtigen sozialen Konflikte in Deutschland sich nicht in umfassenden Schlagworten bündeln. Sicher, die gute alte "Gerechtigkeit" tut weiter ihre Dienste, und wer die Konzerne angreift, beruft sich ebenso auf sie wie der, welcher Subventionen und Vergünstigungen als "Steuerprivilegien" abschaffen will.

Warum soll der kleine Mann die Spekulationsgewinne von Ölkonzernen bezahlen oder warum soll die Ladenkassiererin mit ihren Steuern Studienplätze für die Oberschicht bezuschussen? Das sind Gerechtigkeitsfragen, die sich in einer komplexen Gesellschaft beliebig vermehren und meistens so oder so beantworten lassen.

Aber was ist gerecht zwischen Alt und Jung? Jeder wird einmal alt. Kinder zu haben darf nicht Pflicht sein, und doch haben Eltern nicht ohne Grund das Gefühl, sie trügen zum Erhalt der Gesellschaft mehr bei als noch so hart arbeitende Kinderlose.

Stadt-Land, Ost-West, Arm-Reich, Inländer-Zuwanderer: Die Konfliktlinien der Gegenwart lassen sich nur schwer den klassischen Gerechtigkeitsfragen, die sich überwiegend zwischen Arbeit und Kapital stellten, zuordnen. Die komplexe und teure Arbeit der Industriegesellschaft kann man nicht einfach "verteilen"; Frauen und Männer gibt es in allen Schichten; am ehesten scheinen traditionelle Gerechtigkeitsfragen auf im Bildungsgefälle, von dem soziale Mobilität ebenso abhängt wie die Integration der Einwanderer.

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Der Bewegungsbegriff der Gegenwart heißt "Innovation". Er hat inzwischen ältere Ausdrücke wie "Fortschritt", "Emanzipation" und zuletzt "Reform" abgehängt. Fortschritt macht als Globalisierung und Konkurrenzdruck Angst; Emanzipation könnte, vor allem in der Verabschiedung alter Familienbilder, einige unserer Probleme befördert haben - wird sie nicht zum Nischenthema grüner Randgruppen? Reform ist meistens Murks. Wir hatten mal ein Zukunftsministerium - vergangene Zukunft!

Auf die Innovation kann man sich derzeit leicht einigen. Die Bundesregierung betreibt die nette Internetseite www.innovationen-fuer-deutschland.de. Aber wer hier Auskünfte über zukunftsträchtige Erfindungen der Jetztzeit erwartet, täuscht sich: Wir lernen die Mundharmonika von 1821 kennen, Bismarcks Sozialgesetzgebung (1883-91), die Currywurst (1949) oder auch eine Handvoll jüngerer Errungenschaften wie die High-tech-Beinprothese C-Leg (1997).

Innovationen sind, so lernen wir, erfolgreiche Erfindungen für Welt- und Binnenmarkt. Vielleicht die symbolträchtigste deutsche Innovation ist das Medikament Aspirin von 1897. Damals waren wir die "Apotheke der Welt"! Wir waren ein Land der Ideen, lautet die Botschaft, also können wir es wieder werden. Sind wir es vielleicht schon, und es mangelt nur an der Umsetzung und Vermarktung? Wir haben Probleme, aber eine "neue Innovationskultur" könnte sie lösen. Innovation wird uns dabei durchaus als etwas Traditionsträchtiges vor Augen gerückt, als überhistorischer Einfallsreichtum heller Köpfe, die es immer gibt. Man soll sie machen lassen - den Nutzen haben alle, Unternehmer wie Arbeitnehmer, der steuereinnehmende Staat, die Sozialkassen, somit auch Rentner und sozial Schwache.

Düsentrieb statt Marx

Das Bestechende des Innovationsbegriffs dürfte gerade in seiner scheinbaren historischen und gesellschaftspolitischen Neutralität bestehen. Mit ihm verbindet sich keine umfassende Vorstellung von Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Zukunft.

Er fordert uns auf, die Ärmel hochzukrempeln, beziehungsweise das Köpfchen anzustrengen und die Chancen zu nutzen. Ein "Land der Ideen" nannte der Bundespräsident dieses Deutschland: meinte er vielleicht "Land der Geschäftsideen"? Jedenfalls geht es hier eher um die Glühbirne (1854) als um Hegels Geschichtsphilosophie (um 1820): Daniel Düsentrieb statt Karl Marx.

Die eigentümliche Blindheit des Innovationsbegriffs zeigt sich auch darin, dass ihm der präzise Gegenbegriff fehlt. "Innovation und Gerechtigkeit" plakatierte die SPD im Bundestagswahlkampf von 1998, und auf derselben Linie liegt die Innovationsseite im Internet, wo auch Bismarcks Sozialgesetze einschmuggelt werden konnten. Diese werden dadurch freilich aufs Maß eines effizienten sozialtechnischen Tricks gestutzt; und "Gerechtigkeit" als Gegenüber von "Innovation" lässt Gerechtigkeit als ein Moment der Beharrung erscheinen.

Auch Linke schätzen Tradition

Der logische Gegenbegriff der Innovation aber wäre die "Tradition". Zu ihr bekennen sich inzwischen auch außerhalb der katholischen Kirche wieder weite Kreise. Allerdings schillert der Begriff. Das angeblich "traditionelle" Familien- und Frauenbild Paul Kirchhofs bleibt manchen ein Ärgernis. Trotzdem ist Tradition durchaus auch bei der Linken geschätzt. Aber da geht es um die bewährten Mittel des sozialen Konflikts, Flächentarifverträge oder Kündigungsschutz.

Die Partei des jeweils Bestehenden brauchte schon immer weniger begriffliche Anstrengung als die Partei der Veränderung; darum sind "linke" politische Bewegungen traditionell theoriestärker als der Konservatismus, der bestenfalls das ist, was ist, oder aber die "Natur des Menschen" durchräsoniert. Diese konservative Theoriearmut eignet nun heute weithin der klassischen Linken, und das zeigt sich nicht zuletzt im Fehlen eines zündenden Schlagworts. Wo bleibt eigentlich der linke Professor aus Heidelberg? Wir würden ihn gerne lesen.

Ist "Innovation" ein "rechter" oder ein "linker" Begriff? Beide großen politischen Lager bedienen sich seiner ungeniert, in der Welt der Edelgard Bulmahn ist er ebenso zu Hause wie bei Angela Merkel, die kürzlich noch einen "Innovationsberater" in ihr "Kompetenzteam" aufnahm - einen Herrn, der sich auch mit Kanzler Schröder prächtig verstand. Ihr Zukunftsanspruch könnte die "Innovation" der Linken zuschlagen, vor allem wenn damit auch eine soziale Erneuerung verbunden wäre. Doch man täusche sich nicht: Der harte Kern gerade dieses Begriffs ist erzkapitalistisch.

Innovationen sind nicht einfach unschuldige Geschäftsideen, gewinnbringende Erfindungen. In ihnen versteckt sich vielmehr das, was Joseph Schumpeter "schöpferische Zerstörung" nannte, das revolutionäre Prinzip der industriell-marktwirtschaftlichen Produktionsweise. Die zentralen Innovationen haben immer auch die Gesellschaft insgesamt verändert, ob es sich um den Buchdruck handelt, die Dampfmaschine, die Antibiotika, die Pille oder zuletzt den mit digitaler Datenverarbeitung vernetzten Computer.

Großgewerkschaften in tankerhaften Machtzentralen

Wer sich zur Innovation als Lebensprinzip des Ökonomischen bekennt, macht sich diesen revolutionären Geist des Kapitalismus zu eigen, der nach Karl Marx alles Ständische und Stehende verdampfen lässt. Innovation, das ist heute wieder Fortschritt ohne Utopie, Umsturz als nüchternes Wirtschaftsprinzip. Sozialer Protest dagegen hat, wie in vormodernen Zeiten, einen rückwärtsgewandten, eben ständischen Zug angenommen, der auf alte Rechte, auf "gerechte Preise" oder "Mindestlöhne", also auf das Prinzip auskömmlicher Subsistenz pocht.

Die deutschen Großgewerkschaften in ihren tankerhaften Machtzentralen haben die Erbschaft der vorindustriellen Zünfte mit ihrer ehrenfesten Immobilität angetreten. Zurecht darf man sie heute als Hüter der Tradition bezeichnen.

Da niemand in der Gesellschaft die Notwendigkeit von Innovationen bestreiten mag - denn der Weltmarkt lässt sie als unabweisbar erscheinen -, geht der Kampf jetzt um die Balancen. Sie bestimmen sich nicht zuletzt durch das, was bezahlbar ist. Es wäre angesichts dieser Aufgabenstellung schon möglich, umfassendere Antworten zu formulieren. Aber was ist im Angebot? Es gibt die vielen Ruckredner, deren aufrüttelndes Verdienst unbestreitbar ist, die sich aber vor allem gegen das Bestehende mit seinen Verkrustungen richten.

Paul Kirchhof will Staat und Wirtschaft radikal entflechten, der Staat soll klein, aber hart werden, vor allem deutliche Grenzen haben; die Wirtschaft soll vital frei sein, auch als ein Ausdruck anthropologischer Ungebundenheit. Sein Entwurf ist nicht neoliberal, sondern altliberal, viel mehr an Wilhelm von Humboldts "Grenzen der Wirksamkeit des Staates" orientiert als an Margaret Thatchers Leugnung des Sozialen.

Das Bleibende verändern?

Die positive Zielutopie, die sich sonst hinter dem scheinbar so blinden Begriff der Innovation allenfalls verbirgt, ist die vage Vorstellung einer "Wissensgesellschaft", die das Prinzip verwertbarer Ideenproduktion systematisch organisieren soll. Die Revolution soll also in die Bildung verlagert werden, um so den traditionellen Sozialstaat zu retten. Forschung ist der einzige Wachstumssektor der öffentlichen Haushalte, die sonst so viel sparen müssen. Auch hier sind sich alle Parteien im Prinzip einig.

So zeigt sich die paradoxe Lage, dass das Soziale der Ort der Tradition sein soll, während Wissen und Bildung, die einst nicht zuletzt als Stätten der Überlieferung dienten, die Last der Zukunftssicherung aufgebürdet bekommen. Die Geisteswissenschaften kompensieren die Traditionsverluste der Moderne, so hieß es noch gestern. Heute heißt es: Zielgerichtete innovative Forschung soll die Kosten von Generationenverträgen und Altersgesellschaft, von Globalisierung und sozialer Sicherung einspielen.

So bleibt die gegenwärtige Rede von der Innovation schillernd, ja trügerisch. Sie suggeriert, alles könne bleiben wie es ist, wenn man nur genügend verändere. Wer allein auf die Wissensgesellschaft setzt - anstatt beispielsweise Freiberufler von dem Zwang zu befreien, Monat für Monat ganze Tage dem Finanzamt zuzuarbeiten - sucht das Perpetuum mobile.

Bezeichnenderweise wird so vor allem am Überbau herumgefummelt, an Lehrplänen und Universitäten. Wissensballast wird abgeworfen, Forschung ersetzt Persönlichkeitsbildung, das Labor die Bibliothek, die Recherche die Anstrengung des Begriffs. Der soziale Konservatismus mit seiner materiellen Gefräßigkeit begünstigt so den Abbau geistiger Tradition. Das ist gefährlich, weil die Innovation, das revolutionäre Prinzip der entfesselten Technik, so unberechenbar ist.

Wir können heute noch gar nicht wissen, welches Wissen wir morgen brauchen. "Innovation", das wäre, recht verstanden, das schöpferische Leben der Gesellschaft selbst. Es braucht Tradition, diesen riesigen Speicher von Erfahrung und Phantasie. Was es nicht braucht, ist das deutsche Erzübel: Bürokratie, die schriftgewordene Angst. Nicht Bildung sollte man abbauen, sondern Vorschriften.

© SZ vom 17.09.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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