Ingeborg Bachmann-Preis:Gähn, Stöhn, Seufz!

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Viel zu wenig Ausrutscher: Das Klagenfurter Wettlesen ermüdete mal wieder mit wohlfeilem Literaturschmock.

Ijoma Mangold

Vom Initiator des Klagenfurter Ingeborg Bachmann-Preises, von Marcel Reich-Ranicki, sind apodiktische Äußerungen notorisch, in denen er sein Recht reklamiert, dass ihn Bücher nicht interessierten, deren Protagonisten nicht über ein mondänes intellektuelles Format verfügen. Reich- Ranickis Idealfigur ist gewissermaßen der kultivierte New Yorker Rechtsanwalt - durch seinen Beruf in der urbanen Wirklichkeit verankert, durch seine Virilität ein aktiver Streiter im Geschlechterkampf und durch seine Intellektualität in der Lage, das, was ihm widerfährt, mit einem gewissen Grad an Bewusstheit zu deuten und zu bewerten.

Die deutsche Autorin Inka Parei hat in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann- Preis 2003 erhalten. Der Hauptpreis der 27. "Tage der deutschsprachigen Literatur" ist mit 22.500 Euro dotiert und wird von der Kärntner Landeshauptstadt gestiftet. (Foto: AP)

(SZ v. 30.06.2003) Man hat Reich-Ranicki für dieses beherzte Dogma belächelt, ihm seine naive Normativität vorgehalten und es als letzten Wurmfortsatz einer Ästhetik des psychologischen Realismus erkannt. Man konnte ihm leicht einen Kanon der Weltliteratur entgegenhalten, der sich um diese Prämissen einen Teufel scherte. Und doch: Wer in diesem Jahr den Autoren des Bachmann-Wettbewerbs lauschte, konnte bei sehr vielen Texten einen ähnlichen Abwehrreflex verspüren. Ist man deshalb einfach noch nicht aus dem dogmatischen Schlummer des psychologischen Realismus erwacht? Keineswegs, die Sache liegt anders.

Beim diesjährigen Klagenfurter Wettlesen wurde ein Typus von Literatur stets mit sehr viel Wohlwollen und interpretatorischer Zuwendung bedacht, der handwerklich solide gebaut, sprachlich sehr einheitlich durchgearbeitet war und der häufig arrangiert wurde um eine isolierte Figur ohne soziale Umwelt, die aus der Ich-Perspektive ein Leben beschreibt, das von vornherein nur als deformiertes und in keine soziale Ordnung je integriertes zu fassen ist. Es waren - und das ist bezeichnend - in aller Regel Texte ohne ästhetische Peinlichkeiten, ohne Ausrutscher oder größere formale Entgleisungen.

Es ist immer aufschlussreich, mit welcher Art von Texten man auf der sicheren Seite steht. Es zeigt sich darin, welche Formen zu Konventionen geronnen sind. Wir haben längst eine Regelpoetik der Pathologie, ein Dogma der Negativität, eine gut abgehangene Ästhetik des Wirklichkeitsverlustes. Wer sich an diese Ordnung des Diskurses hält, der achtet auf einige wenige Regeln: Er scheut die auktoriale Erzählperspektive wie der Teufel das Weihwasser. Nie darf ein größeres Stück Welt erscheinen als die klaustrophobische Kapsel, in die sich der Protagonist immer mehr einzuigeln hat. Diese Monade hat sich sodann den Dingen der unmittelbaren Umgebung so sehr zu nähern, dass diese - wie die Hautunreinheiten in der gnadenlosen Vergrößerung eines Schminkspiegels - aus der Proportion kippen, sich verzerren und den Charakter von Vexierbildern annehmen, in denen Schmerz, Verlorenheit, Wahnsinn des Ichs aufscheinen. Man unterdrücke alle rhetorische Spielfreude, gönne sich nur das Graubrot einer kargen Parataxe, denn je abgemagerter der Hauptsatz, desto unerbittlicher hat man sich der Welt des sozialen Austausches verweigert. Hält man sich an diese Askese-Vorschriften, entsteht in jedem Fall der Schein eines radikal "genauen" und "eindringlichen" Stils, der zudem außer Gefahr ist, im Überschwang auch mal ein falsches Register zu ziehen. Man gebe ferner dem Protagonisten möglichst wenig Biographie, das würde der existentiellen Grundsituation nur ihre Wucht nehmen. Und - aber das versteht sich fast von selbst: Man gebe nie der Versuchung nach, komisch zu sein. Ob Ironie, Galgenhumor oder homerisches Gelächter: das ist zu risikoreich.

Es gab in Klagenfurt keineswegs nur Texte, die diesem Basis-Rezept folgten. Aber die es taten, kamen stets gut davon. Die Welt nämlich, so erklärte Jurorin Ilma Rakusa mit einem für sie ungewöhnlichen Ausdruck, sei "so crazy". Das war eine aufschlussreiche Wortwahl, denn "crazy" im Sinne von überschäumend, ungebunden, anmaßend oder bedenkenlos waren diese Texte gerade nicht. Sie waren vielmehr Stein um Stein wohlgefügte Miniaturen einer zarten Pathologie, eines wohlfeilen Wahnsinns oder einer eindringlich parfümierten Traurigkeit. Sie waren sehr oft stiller, langsamer Literatur-Literatur-Schmock.

In diesem Fach gewiss die Souveränste erhielt denn auch den mit 22500 Euro dotierten Bachmann-Preis: Inka Parei, die das melancholisch verhangene Abschiednehmen vom Leben eines alten, einsamen Mannes in Frankfurt/Rödelheim beschrieb, der noch einmal in der Ödnis seines Hauses einem Fremden begegnet, bevor er seinen Vorsatz umsetzt, "beim Sterben in den Himmel zu blicken". Das war zweifelsohne konsequent und wurde überdies plebiszitär konfirmiert: Der per Internetabstimmung ermittelte Kelag-Publikumspreis ging ebenfalls an Inka Parei.

Für die den Wettbewerb beobachtenden Feuilletonisten ist Klagenfurt auch eine Übung in Demut und Selbstbescheidung: Sie müssen hier zähneknirschend akzeptieren lernen, dass es nicht immer nach dem eigenen Willen und der eigenen Weisheit geht. Dass das ästhetische Urteil, mit Kant zu sprechen, zwar dazu tendiert, Allgemeingültigkeit zu beanspruchen, es diese aber zuletzt nicht mit Vernunftgründen zu deduzieren vermag. Das geht in Ordnung. Gleichwohl: Es fiel schon auf (und wurmte durchaus), dass einige hervorragende Texte gänzlich durch das Sieb der Jury fielen: Texte mit einem weiteren Horizont, mit mehr imaginativem Konstruktionswillen, mit höherer Experimentierbereitschaft und mit stärkerer zeitgenössischer Dringlichkeit: Lukas Hammerstein, der mit den "Hundertzwanzig Tagen von Berlin" das Post-New- Economy-Berlin zwischen Erregung und Katzenjammer in den Blick nahm, ein Stück temporeicher, cooler Literatur, gewiss nicht makellos, aber vielleicht gerade deshalb von anregender Prätention. Zu "yuppiemäßig" sei das designt, eine "abstoßende hedonistische Eucharistie", befand die Jury.

Oder Henning Ahrens, der in "Commander Coeursledge" mit großem Sprachvermögen eine apokalyptische Zukunftsszenerie entwarf, die es im Medium der Literatur aufnahm mit der Kinowelt zwischen "Mad Max" und "Matrix". Das sei, so die Jury-Vorsitzende Iris Radisch, "Literatur für große Jungs". Oder Gregor Hens, der in bester Novellentradition das Zugleich, die eben nur scheinbar sinnstiftende Koinzidenz von politischer Ereignisgeschichte und Naturgeschichte erkundete - am Beispiel des Staatsbesuchs von John F. Kennedy in Costa Rica, der mit dem Ausbruch des Vulkans Irazu zusammenfiel. Eine hervorragend konstruierte Arbeit am Mythos JFK, die sich auch als vieldeutiger Kommentar zu den jüngsten transatlantischen Entfremdungen lesen ließ.

Aber da war noch etwas. Da war noch die herrlich herausfallende, ebenso impulsive wie motivisch klug gewebte Erzählung "Häute" von Feridun Zaimoglu. "Häute" entwirft eine Welt an der Schwelle zwischen Archaik und unerbittlich herandrängender Modernisierung. Es ist ein großer Text über die Dialektik von Einhegung und Ausbruch der Sexualität, ein phallischer Text, der sich immer wieder zu femininer Zartheit empor-schwingt und jene labile Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Maske oder Persona auf der einen und Fleisch und Blut auf der anderen Seite erkundet, die zugleich Ort der sexuellen Selbstdarstellung und Zone der erogenen Empfänglichkeit ist. Zaimoglu erhielt den zweiten, den Preis der Jury. Der dritte Preis ging an eine Art Prosagedicht von Farhad Showghi, der vierte an Ulla Lenzes postkoloniale Indien-Erzählung mit pochendem Wälsungenblut "Schwester und Bruder".

Die Jury wurde in diesem Jahr fast komplett ausgewechselt und auf neun Juroren erweitert. Nach dem desaströsen "Bewerb", wie die Österreicher sagen, vom vergangenen Jahr kann man konstatieren: Die Texte sind besser geworden, insofern unterirdisch peinliche Hilflosigkeiten diesmal nicht eingeladen worden sind. Auch die Jury hat klarer und klüger argumentiert - keine Frage. Dass aber der Bewerb deswegen insgesamt aufregender und stimulierender geworden ist, das wird man nicht wirklich behaupten wollen. Die deutsche Gegenwartsliteratur jedenfalls ist vielfältiger, mutiger und kraftvoller als der Ausschnitt, den Klagenfurt präsentierte. Aus welchen Gründen auch immer.

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