Ingeborg-Bachmann-Preis 2012:Am Ende zur Richtigen "Hi" gesagt

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Viel Harmlosigkeit - und dann eine Riesenüberraschung: Die in Russland geborene Schriftstellerin Olga Martynova gewinnt in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis. Ihr humoristisches Textgespinst "Ich werde sagen: Hi!" lässt sich zunächst so gar nicht greifen, und hat die Zuhörer doch zu Recht betört.

Christopher Schmidt

Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar", lautet der wohl bekannteste Satz von Ingeborg Bachmann. Ob die Wahrheit auch den Teilnehmern des nach ihr benannten Lese-Marathons zumutbar ist, war wie immer die große Frage in Klagenfurt. Um die Suche nach dem "haltbaren Satz im Bimbam der Worte" ging es bereits im schönen Eröffnungsvortrag von Ruth Klüger. Die Literaturwissenschaftlerin und Holocaust-Überlebende sprach über den Wahrheitsbegriff im Werk von Ingeborg Bachmann. Dabei machte sie geltend, dass die Wahrheit der Literatur für Bachmann nicht aufging im bloßen Abbilden der Wirklichkeit. Worum sie rang, veranschaulichte Ruth Klüger am Beispiel der Erzählung "Ein Wildermuth". Während die Experten in einem Mordprozess um lauter Details streiten, zuletzt dreht sich alles um einen Knopf, verfehlen diese "Knopfologen" jene innere Wahrheit, die mit Ideen und Visionen einhergeht.

Die russisch-stämmige Schriftstellerin Olga Martynova, Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann Preises 2012, am Sonntag bei der Preisverleihung in Klagenfurt. (Foto: dapd)

In Klagenfurt musste man sich bis zum Ende des ersten der drei Lesetage gedulden, bevor die Juroren beweisen konnten, dass sie nicht nur Knopfologen sind, sondern dass Visionäre in ihnen stecken. Allerdings geschah dies auf dem Rücken eines Textes, der den Grundsatzstreit nicht lohnt. Die Berliner Musiktherapeutin Sabine Hassinger hatte einen sperrigen Text vorgetragen, in dem sie ihre Familiengeschichte aufarbeitet. Während der Kritiker Hubert Winkels unumwunden zugab, genervt zu sein von diesem literarischen Memory-Spiel, das sich der Lesbarkeit verweigere, hielt die Neu-Jurorin Corina Caduff dagegen, das sei ein Text, den man eben nicht konsumistisch wegschlürfen könne, sondern durcharbeiten müsse.

Allerdings verspüre sie dazu nicht die geringste Lust, so ihre überraschende Wendung. Stattdessen stellte sie die Frage nach der Zeitgemäßheit solcher Sprachexperimente und rief damit ihre österreichischen Jury-Kollegen Daniela Strigl und Paul Jandl auf den Plan, die nach Artenschutz fürs Experimentelle riefen. Winkels wollte sich jedoch mit dem österreichischen Avantgarde-Index als Generalunterstellung von Poetik nicht zufrieden geben, und ganz ähnlich hielt der Jury-Vorsitzende Burkhard Spinnen die "Uneinholbarkeit der Avantgarde qua Definition" für einen allzu bequemen Standpunkt.

Sehnsucht nach dem anderen, dem wilden, wahren Leben

Zum Keulenschwingen gab es schon deshalb ansonsten wenig Anlass, als über den meisten Texten das Verdikt der Harmlosigkeit schwebte. Den Auftakt hatte der in Finnland lebende Übersetzer und Schriftsteller Stefan Moster gemacht mit einer etwas betulichen Vater-Tochter-Geschichte. Im Kern steht eine Ferienerinnerung an die Jugendzeit, da man, Camus im Rucksack, dem Interrail-Existenzialismus frönte. Eine pathetisch gepimpte Petitesse, achtbar, aber nicht rundweg überzeugend. Ebenso wenig wie Hugo Ramnecks "Kettenkarussell", eine Erzählung über eine Jugend in Kärnten, in der ein Jahrmarkt als Projektionsfläche für die Sehnsucht nach dem anderen, dem wilden, wahren Leben dient.

Stilistisch und symbolisch trägt Ramneck einfach zu dick auf. Zu dünn trägt dagegen die kaum 24-jährige Schweizerin Mirjam Richner auf. Zwei junge Lehrerinnen werden in "Bettlägerige Geheimnisse" von einer Lawine verschüttet. Der Text zieht seinen Reiz einzig aus dem Kontrast zwischen girliehaftem Plapperton und abgründigen Endzeit-Phantasien; in ihre Hanni-und-Nanni-Phase fand sich Cornelia Caduff von dieser koketten Böse-Mädchen-Geschichte zurückgeworfen. Es folgte mit Andreas Stichmanns Romanauszug "Der Einsteiger" der erste stimmige und im vollen Sinn zeitgenössische Text des Wettbewerbs. Er handelt von einer Identitätserschleichung. Ein junger Loser, exemplarisch für eine chancenlose Generation, will sich als sanfter Vampir das bürgerliche Idyll einer Kleinfamilie zu eigen machen. Mimikry statt Massaker, eine Art "Occupy im Kleinen" urteilt Juror Paul Jandl.

Die Tendenz zu Kindheits- und Übergangsgeschichten verfestigte sich am zweiten Tag, der eine klare Qualitätsoffensive darstellte. Inger-Maria Mahlke erzählte vom Karrieresprung einer alleinerziehenden Mutter von der Backshop-Jobberin zur Domina, die in der strengen Kammer ihrer Entfremdung gewahr wird. Für die Unerbittlichkeit und kalte Konsequenz dieser Geschichte gab es viel Lob, auch wenn sich bei einigen Juroren die Poren der Empathie schlossen.

"Kontrafaktur des Dschungelbuchs" mit hohem Knuddelfaktor

Die 25 Jahre alte Österreicherin Cornelia Travnicek genoss Welpenschutz. Ihr Roman-Auszug "Junge Hunde" zeugt von demselben sympathischen Pragmatismus, der sie zwecks Existenzsicherung gerade einen Bubble-Teashop eröffnen ließ. Unangestrengt und mit großer Wärme erzählt sie eine leichte Sommergeschichte mit Tiefgang, die vom Ende der Kindheit handelt. Selbst Theorie-Freak Hubert Winkels hatte seinen regressiven Spaß an dieser "Kontrafaktur des Dschungelbuchs" mit hohem Knuddelfaktor, die wie erwartet den Publikumspreis erhielt. Und auch keine Überraschung war, dass Olga Martynova den mit 25 000 Euro dotierten Hauptpreis einsammeln konnte. Denn ihre Lesung hatte am zweiten Tag für einhellige Begeisterung gesorgt. Die Autorin selbst und ihr Text "Ich werde sagen: Hi!" waren allerdings schon eine Riesen-Überraschung. Denn dieses humoristische Textgespinst auf den Spuren von Daniil Charms lässt sich zunächst so gar nicht greifen.

Olga Martynova katapultiert einen mitten hinein in den Mikrokosmos einer deutschen Kleinstadt. Munter purzeln da die Zeit- und Realitätsebenen durcheinander, verdichten sich bestimmte Motive beiläufig im leichten Parlando des Erzählens. Im Mittelpunkt steht ein junger Picaro namens Moritz; erotisch und auch sonst orientierungslos, reist er in der eigenen Stadt durch verschiedene Zeiten und Kulturen. Hier wurde eine Autorin ausgezeichnet, die nicht in ihrer Muttersprache schreibt und die in der so ganz anderen literarischen Tradition Osteuropas steht. Ein Text von großem Witz und großer Poesie, der zu Recht die Zuhörer betört hat.

Ziemlich überraschend war es beim Voting zu einer Stichwahl zwischen Olga Martynova und dem aus Polen stammenden Matthias Nawrat gekommen: Dabei war Nawrat zuvor nicht unverdient für seine Erzählung "Unternehmer" gezaust worden. Die Gewalt der ökonomischen Verhältnisse schildert Nawrat am Beispiel einer Familie, die davon lebt, Elektroschrott auszuschlachten. Doch mangelt es dieser vergifteten Schwarzwald-Idylle im Werner-Schwab-Sound an erzählerischer Engführung, weil der Autor seinen vielversprechenden Beginn in einer konventionellen Coming-Of-Age-Geschichte aufgehen lässt.

Nawrat erhielt einen der Nebenpreise, ebenso Lisa Kränzler. Die junge Freiburgerin spürt in "Willste abhauen" dem sexuellen Erwachen zweier Kindheitsfreundinnen nach und deren ambivalenten Gefühlen zwischen Zärtlichkeit und sadistischer Schmerzlust. Dabei ist der kesse, aufgekratzte Ton das einzig Originelle an dieser schon so oft gelesenen Pubertätsprosa.

Ende der weiblichen Schmerzensprosa

An die Forderung, sich besser an einem überschaubaren Sujet abzuarbeiten, hatte sich einzig der Schweizer Simon Froehling nicht gehalten. Doch seinem großen Thema Organspende zeigte er sich nicht gewachsen. Der letzte Lesetag hatte einem den Abschied von Klagenfurt leicht gemacht. Da gab es eine zwar intelligente, aber auch seelenlose Literaturbetriebssatire von Matthias Senkel. Und der in Japan lehrende Leopold Federmair glänzte mehr als bildender Künstler denn als Autor. Er fotografierte die Jury während der Diskussion, um damit gegen die Usancen zu protestieren. Umbiegen konnte er das ziemlich vernichtende Urteil über seine Geschichte, in der es um eine schon im Ansatz gescheiterte Bonnie-und-Clyde-Beziehung auf dem Lande geht, nicht. Und als die Wienerin Isabella Feimer das Leiden einer verlassenen Frau buchstäblich mit dem eines kopflosen Huhns verglich, hatte zum Glück nicht nur die weibliche Schmerzensprosa ein Ende, sondern auch der Masochismus des Publikums.

In Anspielung auf Ingeborg Bachmanns Erzählung "Drei Wege zum See" hatte Ruth Klüger den Literaturtagen eingangs gewünscht, dass sie Wege zum See finden. Und sie meinte damit nicht nur Wege zum Wörthersee, sondern auch solche zum Wörtersee, also zur Wahrheit. Was erstere betrifft, so waren 120 Fahrräder an die Bachmann-Crowd verliehen worden. Der Weg zur Wahrheit dagegen war verschlungener, aber am Ende hat er zur Richtigen "Hi" gesagt.

© SZ vom 09.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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