Independence Day in den USA:Das Heim der Braven

Am 4. Juli feiert Amerika vor allem sich selber - doch in diesem Jahr unter besonderen Vorzeichen.

ANDRIAN KREYE

(SZ v. 04.07.2003) Als der Bullenreiter an diesem frühen Abend des 4. Juli über das Gatter auf den Rücken des Tieres stieg, sah er nicht, wie die beiden Clowns des Rodeos sich breitbeinig im Sand postierten, um den Stier abzulenken, wenn er gleich ohne die Last seines Reiters nach einem Ziel für seine Hörner und Hufe suchen würde. Er sah auch nicht, wie die Sonne die Felsenberge von Window Rock glutrot einfärbte, oder wie die Standartenreiterin noch einmal ihr Sternenbanner glatt strich, mit dem sie in ein paar Minuten für die Sieger des Abends durch die Arena reiten würde. Er spürte nur, wie der dumpfe Geruch von Fell, Schweiß und Staub in seine Nase stieg, wie sich der Zorn des Tieres in den Muskelsträngen des mächtigen Rückens sammelte und wie das Leder des Reitgurts in seine Handschuhe schnitt. Acht Sekunden lang würde er auf diesem Rücken aushalten müssen. Acht Sekunden, in denen sich eine gute Tonne Fell, Fleisch und Muskeln in explosionsartigen Entladungen durch die Arena katapultiert.

Independence Day in den USA: Feuerwerk im Regen verhangenen Washington.

Feuerwerk im Regen verhangenen Washington.

(Foto: AP)

Für Außenstehende sind die Feierlichkeiten in Window Rock zum Unabhängigkeitstag jedes Jahr wieder befremdlich. Immerhin ist der Flecken in der Wüste von Arizona die Hauptstadt der Navajo Nation, dem ärmsten Indianerreservat auf dem gesamten nordamerikanischen Kontinent. Was gibt es für die Navajos schon zu feiern? Und doch ist die Stimmung hier nicht weniger patriotisch und festlich, wie in all den anderen Ortschaften des Landes, egal ob beim Dorftanz in Alaska oder beim großen Feuerwerk vorm Kaufhaus Macy's in New York.

Hier draußen im amerikanischen Westen nennt man den Nationalfeiertag des 4. Juli "Cowboys' Christmas". Über 100 Rodeos finden um diesen Tag herum statt. Und weil man auch in Window Rock Punkte für die Jahresmeisterschaften der PRCA, der Professional Rodeo Cowboys Association, sammeln kann, reisen die Teilnehmer aus dem gesamten Südwesten an. Das ist eine Gelegenheit für die Navajos, ihren Stolz auf das Land zu zeigen, zu dem sie doch eigentlich nicht gehören. Da gibt es am 4. Juli gegen Mittag eine Parade, bei der traditionelle Stammestänzer gemeinsam mit Veteranen und Schönheitsköniginnen durch die Ortschaft ziehen.

Dabei flattern die Sternenbanner in sämtlichen Größen und die Marschkapelle spielt Hymnen und Fanfaren. Für die meisten Navajos ist dieser Patriotismus kein Widerspruch zur eigenen Geschichte. Für Europäer ist das nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Aber das war es noch nie. So schrieb Alexis de Tocqueville schon vor 170 Jahren: "In den alltäglichen Verrichtungen gibt es nichts, dass peinlicher wäre, als dieser irritierende Patriotismus der Amerikaner." Mark Twain beobachtete da etwas präziser: "Patriotismus ist schlichtweg eine Religion - die Liebe des Landes, die Verehrung des Landes, die Hingabe zu Flagge, Ehre und Wohl des Landes." Die Analogie vom Weihnachten der Cowboys ist also gar nicht so weit hergeholt. Und warum soll man den Gründervätern hier im Westen nicht dankbar sein? Immerhin haben sie an der weit entfernten Ostküste vor nunmehr 227 Jahren einen Kraftakt vollbracht, der es all den Abenteurern, Pionieren und Cowboys ermöglichte, in den endlosen Weiten des Landes ihr Glück zu suchen. Deswegen sind es gerade die Provinzfeste, auf denen man als Außenstehender die amerikanische Form des Patriotismus nachvollziehen kann - wenn das ganze Land unter dem Sommerhimmel Paraden abhält, Würstchen für die Hot Dogs grillt und vor dem Sternenbanner salutiert. Das mag banal klingen, doch gerade das ist die wahre Größe Amerikas - der ultimative Konsens, der jede Form von Glauben, Kultur und Weltsicht gleichzeitig nivellieren und in sich aufnehmen kann. Und der kleinste gemeinsame Nenner in dieser Konsensfindung ist das Sternenbanner.

Es gibt am 4. Juli nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner. Es gibt auch eine alljährliche Sinnsuche, und weil Amerika weniger ein Land der Worte, als der Taten ist, reduzieren sich die Allegorien auf die Essenz der Nation oft auf einen Sport. Will man grob vereinfachen, kann man dabei heute noch die Grundwerte der einzelnen Landstriche erkennen. Das Gleichheitsprinzip im Baseball der Ostküste, die Aufbruchsstimmung in den Drag Races des mittleren Westen, die Bezwingung des wilden Kontinents in den Rodeos der Prärie- und Wüstenstaaten, und die zengleiche Ruhe der Surfer am Pazifik, dessen Wellen die Bewältigung der letzten "Frontier" bedeuten.

Es fällt einem in diesen Tagen allerdings schwer, an die Unschuld des Patriotentages zu glauben, wenn man mitten im Familienidyll eines Volksfestes die neuesten Countryhits zu hören bekommt. Wenn Tobey Keith singt: "Wir rammen dir einen Stiefel in den Arsch, das ist so die amerikanische Art." Oder wenn Clint Black im Refrain seines Hits kalauert: "Iraq'n'Roll". Was hätten die Gründerväter wohl zu diesem heutigen Amerika gesagt? Der 4. Juli ist schließlich auch ein alljährliches Zitatenfest, bei dem selbst der Bürgermeister des abgelegensten Weilers in der Pflicht steht, wenigstens einen der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung zu zitieren. Die Auswahl ist natürlich frei, und so darf man sich beispielsweise fragen, was Thomas Jefferson von Amerikas Rolle in der Globalwirtschaft halten würde.

Immerhin schrieb er vor fast 200 Jahren an seinen Mitautor John Adams: "Unsere Gier nach Reichtum und fantastischem Aufwand haben und werden den Geist unserer maritimen Bürger korrumpieren. Denn dies sind die ureigenen Untugenden des Handels." Man könnte auch glauben, Benjamin Franklin habe die Angriffe des heutigen Justizministers Ashcroft auf die Bürgerrechte nach dem 11. September gemeint, als er sagte: "Wer bereit ist, grundlegende Freiheiten aufzugeben, um sich kurzfristige Sicherheit zu verschaffen, der hat weder Freiheit noch Sicherheit verdient." Und haben die Falken im Pentagon die Präambel der Unabhängigkeitserklärung nicht grundsätzlich missverstanden? Denn dort wurde der Freiheitsbegriff nicht als Exportgut definiert, sondern mit den Worten: "Wann immer sich eine Regierungsform als zerstörerisch erweist, ist es das Recht des Volkes, sie zu ändern oder abzuschaffen" Auch das von der Verfassung garantierte Recht auf die Jagd nach dem Glück haben die Interessengruppen um die Regierung Bush vielleicht etwas zu eng ausgelegt.

Doch solche Gedanken wälzt man höchstens in den Redaktionsstuben von New York, bei Symposien an den Schulen der Ivy League oder in Europa. Im so genannten "Heartland" von Amerika hält man es eher mit den trotzigen Worten des Countrysängers Hank Williams Jr.: "Die Großstadtprobleme scheren uns nicht weiter. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir kämpfen für die Freiheit und für unseren Spaß." Was das ist, das darf jeder selbst definieren.

An jenem eingangs beschriebenen 4. Juli hielt es den Bullenreiter beispielsweise nur drei Sekunden auf dem Rücken des Stieres. All das Trainieren und Üben, die blauen Flecken und gebrochenen Knochen waren an diesem Abend vergebens. Er trug es mit Fassung, brachte sogar noch ein zaghaftes Winken zustande, als ihm die Menge alleine für seinen Mut zujubelte. Auch dieses Jahr findet in Window Rock zum Unabhängigkeitstag wieder ein Rodeo statt. Gut möglich dass der Bullenreiter auch diesmal wieder gegen einen der Navajostiere antritt. Noch so ein Stück Amerika - hier darf sich jeder so oft neu erfinden, wie er will. Es ist ja dabei nicht schwer, sich auf die wenigen Gemeinsamkeiten einzulassen. Und wenn die Standartenreiterin dann mit wehendem Sternenbanner durch die Arena galoppiert, werden die Cowboys und Navajos gemeinsam salutieren und klatschen.

Dann wird das Prinzip Amerika einen Moment lang so einfach und schlüssig erscheinen. Aber dann wiederum ist Washington über 2000 Meilen von hier entfernt und die nächste Küste zwölf Stunden im Auto.

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