Im TV: Polizeiruf 110:Wer ich eigentlich war

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Abschiedsstimmung: Schauspieler Edgar Selge schreibt über seine Zeit als einarmiger Kommissar Tauber im "Polizeiruf 110". Denn den wird es nicht mehr geben.

So sehr ich mich in den vergangenen Jahren gefreut habe, wenn's wieder losging, wenn ich wieder eine neue Folge des Polizeirufs drehen durfte, so wenig hat mich je interessiert, warum Herr Tauber einarmig ist. Das war mir 20 Filme lang völlig gleichgültig.

Edgar Selge als Hauptkommissar in "Endspiel". Am Sonntagabend löst er seinen 17. und letzten Fall. (Foto: Foto: ddp)

Es gab zwar eine Folge: "Tiefe Wunden" (2002), in der eine Rückblende aufklärt, wie er seinen Arm verloren hat. Der Film erzählt die Geschichte einer Wiederbegegnung mit Taubers alter Liebe, einer Kriminellen, die er in seinem früheren zweiarmigen Leben bei der Aufklärung eines Raubüberfalls kennenlernte.

Gottgegebene Einarmigkeit

In der Rückblende sieht man, wie er sie über das Flachdach eines Hochhauses verfolgt, sie vor dem Absturz rettet, sich dabei in sie verliebt, und sie mit Handschellen an sich kettet - zwei Gefangene der Liebe. Doch dann werden die beiden von einem Mitganoven überrascht, der den Handschellen-Schlüssel einfordert, weil er ebenfalls Ansprüche an die Frau hat. Tauber weigert sich und wirft, träumerisch verliebt, das Schlüsselchen vom Dach in die Tiefe. Der Ganove nimmt eine Feuerwehraxt, hackt ihm den Arm ab und entflieht mit dem Mädchen. Wie gesagt, eine Rückblende.

Ich mochte den Film sehr, aber diese Szene habe ich gleich wieder vergessen. Ich habe sie auch später nie mit Taubers Einarmigkeit verbunden. Die war für mich immer wie gottgegeben: Dem Mann fehlt halt was, und das war mir recht.

Cornelia Ackers, die verantwortliche Redakteurin des Bayerischen Rundfunks, die Tauber und Obermeier erfunden hat, wie fast alle Grundmuster der 17 Geschichten der beiden Kommissare, erzählte mir allerdings immer wieder von der Einarmigkeit ihres eigenen Vaters, von seinem Leben. Es ist die abenteuerliche Lebensgeschichte eines Unternehmers und Fremdenlegionärs, der als Folge eines Duells um eine Frau seinen Arm verlor. Der Mann war eine Art fliegender Holländer, ein vagabundierender Bankrotteur, der sich daheim selten blicken ließ, in Ghana eine Schwarze heiratete, über die Kontinente flog und sich dort buchstäblich in Luft auflöste.

Einen ayurvedischen Gesundheitstee in der Hand

Irgendwann erschien die Frau aus Ghana an der Haustür einer deutschen Kleinstadt mit einer Urne in der Hand, um der Familie Ackers ihren einarmigen Vater zurückzugeben. Da war die Redakteurin vierzehn. Ich vermute, dass dieser Mann in den wenigen Begegnungen mit seiner Tochter ein explosives Gemisch aus Sehnsucht, Liebe, verletztem Stolz und unbeantworteten Fragen zurückgelassen haben muss, auch ein Vakuum nie stattgefundener Abrechnungen.

Aber in meiner Phantasie hat sich dieser Vater nie festgesetzt. Er hat mich nie wirklich interessiert.

Ich besuchte Cornelia in regelmäßigen Abständen, sobald die neuen Drehtermine am Horizont auftauchten und ich etwas über den nächsten Stoff wissen wollte, über die nächste große Episodenfigur, die mein Hirn beschäftigen würde. Dann saßen wir in ihrem verwunschenen Häuschen gegenüber der Blutenburg am knackenden Holzofen oder auf dem morschen baumüberhangenen Balkon, einen ayurvedischen Gesundheitstee in der Hand, und sie erzählte zunächst mal aufregend von ihrem immer dramatischen Alltag als alleinerziehende Mutter, befand sich bald aber unversehens in einer ganz anderen Geschichte.

Plötzlich handelte es sich um ein Opfer, meist eine Frau, zum Beispiel Silicon Wally, die gezwungen wird, sich bis zur tödlichen Schmerzgrenze den Busen vergrößern zu lassen, geködert mit der irren Hoffnung, ihre Sexkarriere irgendwann als Sprungbrett für eine Gesangskarriere nutzen zu können. Oder es ging um die Geschichte der Mutter, die durch Pathologien, Hörsäle und Leichenkeller hetzt, um ihr totes Kind zu suchen, das ihr als Beweismittel nach einem Unfall von fachidiotischen Gerichtsmedizinern entzogen wird - bis sie den kleinen Leichnam im Leichenwagen entführt und sich auf einem Müllberg vor München unter einem Windrad von dem toten Kind verabschiedet und so einen Weg zu ihrer Trauer findet.

Cornelia erzählte mir also immer wieder Geschichten von Menschen, die sich in einem verzweifelten, wütenden und oft vergeblichen Kampf um ihre menschliche und gesellschaftliche Würde befanden. Menschen, die mit aller Kraft die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und der damit zusammenhängenden Werte aufzuhalten versuchten. Oft mit fragwürdigen Mitteln, so dass Täter und Opfer in ein und derselben Person miteinander kämpften.

Lesen Sie auf Seite 2, warum Selge nie wissen wollte, wer er ist.

Dermaßen aufgeheizt und auch irgendwie beschenkt ging ich nach Hause. Immer wieder kam ich aus diesem Pippi-Langstrumpf-Häuschen und hatte den Kopf voll mit einem wahnwitzigen Frauenschicksal, das mich voyeuristisch beschäftigte, viel mehr beschäftigte als ihr Vater. Den hatte ich vergessen. Ich wollte nie wissen, wer ich bin. Ich wollte nur wissen, wem ich begegne. Ich wollte fühlen, welche Art Lust die Geschichte in mir auslöst, und mit diesem Gefühl wollte ich das Drehbuch lesen und in die Dreharbeit gehen.

Filmszene aus dem letzten Tauber-Polizeiruf "Endspiel": Der Staatsanwalt (Matthias Bundschuh, links) im Gespräch mit Kriminalhauptkommissar Jürgen Tauber (Edgar Selge). (Foto: Foto: Bayerischer Rundfunk)

Häufig gab es mit Cornelias Geschichten auch schon die Namen von Schauspielerinnen. Dann vermengte sich meine Neugier auf den Stoff noch mit der Sucht nach Gesichtern: Nadeshda Brennicke als Silicon Wally, Ulrike Krumbiegel als Mutter auf dem Müllberg, Nina Kunzendorf als im Internet strippende Jura-Studentin, die ihren Vergewaltiger erdrosselt, weil das Gericht ihre Aussage verhöhnt, Rosalie Thomass als um ihr Leben lügendes Heimkind, Franziska Walser als Taubers Schwester, die mit sarggroßen Kisten voller Nazireliquien in der Haustür steht, die Taubers Vater seinen Kindern aus seinem Versteck in Montevideo geschickt hat.

Menschliche Defizite als Drehbuch-Inspiration

Ich spürte, die Stoffe hingen alle mit Cornelias Leben zusammen. Sie erlebt zwar viel, aber wichtiger ist, dass sie ein Mensch ist, an dem Erlebtes kleben bleibt. Sie ist eine Anti-Verdrängerin. Ob in ihrem Bekanntenkreis eine Freundin ihr Kind bei einem Unfall verliert, oder ob sie in der Zeitung über ein von Männern in den Sexwahn getriebenes Busenwunder liest - immer verbindet sie die Defizite anderer Menschen mit ihren eigenen.

Natürlich ist es für Autoren schwer, ein Drehbuch zu entwickeln für eine Redakteurin, die das Schöpfungsrecht ihrer Figuren so authentisch fest in den Händen hält wie Cornelia Ackers. Sie gab nie Ruhe, bis sie den von ihr gefühlten Mangel in der Handlung glitzern sah. Und natürlich ist es eine Zumutung für Regisseure und Autorenfilmer, mit einer Redakteurin bis zur Endfassung eines Films streiten zu müssen: Als handele es sich um ein Remake, dessen Original sie in einem früheren Leben gedreht hat.

Hätten wir nicht so sensible, kreativ denkende Produzenten gehabt, wie Uli Aselmann, kein Film von Regisseur Klaus Krämer wäre entstanden. Ohne die Vermittlung Gloria Burkerts wäre Dominik Graf durch die Decke gegangen. Aber waren es nicht diese Streits, die die Qualität unsrer Filme entscheidend mitgeprägt haben?

Diese Streitgespräche sind es, die ich am meisten vermissen werde. Ich habe gelernt, wie gut man im Streit einen Stoff kennenlernt und den Grund, warum er überhaupt erzählt und verfilmt werden muss. Denn die Schmerzpunkte einer Geschichte traten in solchen Auseinandersetzungen so klar zu Tage, dass sie mich während des Drehs nie mehr verlassen haben.

Der Segen der Wechselwirkungen

Unsere Scheu vor Auseinandersetzungen, das Übergehen stattgefundener Streits im Nachhinein ist aber symptomatisch für die Einstellung unserer Branche zur Filmarbeit: Wir sehen im Film bestenfalls die Summe der Einzelleistungen, aber nie den Segen der Wechselwirkungen. Uns entgeht, wie sehr wir uns ständig verändern durch die Vorschläge der anderen. Wir merken nicht, dass diese interaktiven Veränderungen das Beste unsres Berufes sind, sie sind das sogenannte Lebendige. Eine Filmgeschichte individualisiert sich eben nicht dadurch, dass einer seine Vision durchsetzt, sondern dass die Vision im Feuer der Auseinandersetzungen geschmiedet wird.

So formten sich die Grundmuster der Stoffe unsrer Redakteurin durch den produktiven Widerspruch von Autor, Regisseur, Schauspielern, Kamera, Szenenbild, Kostüm, bis sie Film wurden. Einigkeit bestand darin, dass nichts Menschliches tabuisiert sein darf, dass also alles im Fernsehfilm gestalterisch ausgedrückt werden kann.

Nischenproduktionen wurden unsere Polizeirufe in der großen ARD-Runde genannt. Gott gebe uns viele Nischen, damit wir uns nicht als Individuen in der totalen Industrialisierung unsres Geschmacks auflösen (Dominik Grafs vielfach preisgekrönter Scharlachroter Engel - die Geschichte der sich im Internet nackt zeigenden Jura-Studentin - liegt immer noch im Giftschrank der ARD, Wiederholung nicht einmal nach 21Uhr möglich).

Die Abteilung von Fernsehspielchefin Bettina Reitz im Bayerischen Rundfunk ist - neben einigen anderen ähnlichen Abteilungen anderer Sender - eine Bastion für extreme individuelle Geschichten.

Den Vater beerdigen

Immer, wenn ich Cornelia verließ, infiziert mit einer neuen Geschichte, versteckte ich sie - und vor allem die Wirkung, die sie auf mich hatte - vor meiner großen Partnerin Obermeier, meiner Kollegin Michaela May. Das war Teil des Spiels. Diese unbestechliche Realistin, moralische Expertin, ehemalige Brockdorfdemonstrantin, die auf ihrem langen Marsch durch die Institutionen bei der Polizei hängengeblieben war, ausgerechnet in meinem Büro am Schreibtisch gegenüber, sie war der erklärte Gegner meiner subjektiven Vereinnahmung der Stoffe. Ihr Appell zur Objektivierung der Fälle, ihr steter Aufruf zur gemeinschaftlichen Arbeit waren meine größte Angst und doch meine einzige Chance zu überleben - als Kommissar und Mensch. Und ihre Geduld, ihr treues Festhalten am Menschen Tauber ist die eigentliche Utopie dieser Polizeiruf- Reihe mit uns beiden.

Instinktiv habe ich begriffen, dass es gut war, nicht darüber nachzudenken, wer ich eigentlich war: Cornelias Vater. Und es war ebenfalls gut, nicht darüber nachzudenken, wer sie war: Taubers Tochter. Instinktiv habe ich verdrängt, dass ich mich vielleicht in einer Art Versuchsanordnung befand. Instinktiv bin ich in Deckung geblieben wie ein Vierzehnjähriger.

Aber war das nicht bei ihrem Vater genauso? Waren seine abenteuerlichen Fluchten nicht ein Weglaufen vor sich selbst? Wollte Cornelia vielleicht in allen Geschichten ihren Vater zwingen, erwachsen zu werden? Da hat sie lange gebraucht bei mir. Aber sie muss es geschafft haben. Denn beim Abschlussfest all unserer Polizeirufe, nach "Endspiel" beim Münchner Filmfest im Sommer dieses Jahres, sagte sie, und es klang wie eine Erlösung: Nun könne sie endlich ihren Vater beerdigen.

Hier können Sie den Trailer zu "Endspiel" sehen.

Edgar Selge, 60, lebt in München. Der letzte Polizeiruf 110 ("Endspiel") mit ihm und Michaela May wird am Sonntagabend um 20.15 Uhr in der ARD ausgestrahlt.

© SZ vom 07.11.2009/iko/jobr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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