"I'm Not OK" von Billy:Wer diese Lieder hört, der leidet

Bill Kaulitz

Weg vom Offiziellen, hin zum Privaten: Der Tokio-Hotel Sänger heißt für sein Solo-Projekt nicht mehr Bill Kaulitz, sondern "Billy".

(Foto: Davis Factor)

Belangloses Beat-Gewaber, billige Floskeln: Danach klingt das neue Solo-Werk von Tokio-Hotel-Sänger Bill Kaulitz. Oder ist alles nur ein großes Missverständnis?

Off the Record: die Pop-Kolumne von Luise Checchin

"We learned more from a three minute record than we ever learned in school", sang Bruce Springsteen 1984. Und das stimmt auch heute noch. Pop kann uns die Welt erklären - in unserer neuen wöchentlichen Musik-Kolumne.

Es ist nicht einfach, Liebeskummer in Worte zu fassen, geschweige denn, daraus ein gelungenes künstlerisches Werk zu schaffen. Die Gefahr, peinlich zu klingen, ist einfach verdammt groß.

Die meisten Menschen sehen deshalb von der öffentliche Bekundung ihres Schmerzes ab. Sie essen stattdessen zu viel Junkfood, trinken zu viel Bier und leiden still vor sich hin.

Einblicke ins Seelenleben

Bill Kaulitz ist auch nur ein Mensch, aber eben auch ein Popstar und deswegen hatte der Liebeskummer des Bill Kaulitz nicht nur zusätzliche Pfunde und einige leere Flaschen auf dem Balkon zur Folge, sondern auch noch eine Solo-EP mit fünf Liedern. Die heißt "I'm Not OK" und ist nach dem Tokio-Hotel-Album "Kings Of Suburbia" aus dem Jahr 2014 das erste musikalische Lebenszeichen.

Bill Kaulitz heißt für dieses Projekt übrigens nicht Bill Kaulitz, sondern "Billy". So nennen ihn seine engsten Vertrauten. Dieser Schritt weg vom Offiziellen hin zum Privaten macht natürlich absolut Sinn, schließlich geht es auf "I'm Not OK" um intimste Einblicke in ein Seelenleben.

Wie singt Bill "Billy" Kaulitz also über sein gebrochenes Herz? Was hat er zu dem jahrtausendealten Genre der Liebeskummer-Lyrik beizusteuern? Die Antwort heißt: Eine ganze Menge, man muss nur genau hinhören.

Perfekte Entsprechung von Inhalt und Form

Zunächst fällt auf, dass es sich bei "I'm Not OK" um eine Art Konzeptwerk handeln muss, werden hier doch die klassischen Phasen des Liebeskranken beschrieben: Da wäre das pathetische Suhlen im eigenen Schmerz auf "Love don't break me", das obsessive Nachtrauen auf "Not over you" und schließlich die körperliche Hörigkeit, der obligatorische Absturz mit dem Ex-Partner auf "Forbidden Love". Wieso sollte man auch innovativ sein, wenn man etwas schildert, das nach den immer gleichen Mustern abläuft?

Es wäre allerdings euphemistisch, dieser Platte Innovationslosigkeit vorzuwerfen, versammelt sie doch jedes erdenkliche Klischee, das man dem Phänomen Liebeskummer zuschreiben könnte. Textlich äußert sich das in einer Floskelwüste von schier unendlicher Weite: "let the rain come...let the pain come", "I can't escape, I can't erase you", "my mind's a slave for you", sowas.

Die lyrische Beliebigkeit findet ihre Ergänzung in der absoluten Belanglosigkeit des Disco-Pop-Geplänkels, das sie begleitet. Man könnte das lang und breit analysieren, aber es ist eigentlich schon alles gesagt, wenn man von diesem einen Hammer-Einfall aus dem Lied "California High" erzählt: "I'm driving fast, I need to slow down", heißt es da und bei dem Wort "down" wird Billys Stimme doch tatsächlich - ja genau - nach unten gedrosselt. Die Perfekte Entsprechung von Inhalt und Form.

Um die Ecke gedacht

Aber halt, muss der reflektierte Hörer denken: Kann das wirklich alles sein? Kann "I'm Not OK" tatsächlich so aalglatt sein, wie die Platte daherkommt? Oder steckt nicht sehr viel mehr dahinter, eine ausgeklügelte Strategie womöglich, die es zu entschlüsseln gilt?

Letzteres ist anzunehmen. Wer sich etwas länger mit "I'm Not OK" beschäftigt, dem schwant irgendwann, dass das gehaltlose Beat-Gewaber, die nichtssagenden Schwülstigkeiten doch eigentlich nur als ein performativer Akt verstanden werden können. Durch die hohle Beliebigkeit der Platte, so gilt es zu vermuten, soll sich der Geisteszustand des Liebeskranken auf den Hörer übertragen. Der empfindet während der Rezeption nun genau dasselbe wie der an der Liebe Verzweifelnde: Diese entsetzliche Leere, die abgrundtiefe Sinn- und Trostlosigkeit ob des entschwundenen Geliebten.

Im Grunde ist "I'm Not OK" also eine eindrückliche Illustration des Liebeskummer-Gefühls, eine fünfstufige Schulung in Empathie. Denn wer diese Lieder hört, der leidet. "I'm Not OK" ist somit all jenen zu empfehlen, die schon so lange glücklich verliebt sind, dass sie vergessen haben, was Liebeskummer, diese Geißel der Menschheit, mit einer Person anstellt. Man hat es hier mit einem wichtigen Werk zu tun, auf fast schon geniale Weise um die Ecke gedacht, ja subversiv. So ist es, so muss es gedacht sein. Ganz bestimmt.

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