"Soul Kitchen" in der SZ-Cinemathek:Metamorphosen einer Kneipe

Der neue Film von Erfolgsregisseur Fatih Akin mit Moritz Bleibtreu ist Heimatfilm, multikulturelles Weihnachtsmärchen und zu schön, um derb zu sein.

Martina Knoben

Zu Weihnachten teilt sich die Menschheit grob in zwei Gruppen: die Nesthocker und die Nestflüchter. Die einen feiern mit der Familie unterm Weihnachtsbaum und träumen vielleicht davon, die Festtage mal ganz anders zu verbringen, partymachend mit Freunden oder beim Tauchurlaub in Ägypten. Während die anderen am Sandstrand liegen und nicht selten von Tannenbaum und Gänsebraten phantasieren . . .

"Soul Kitchen" in der SZ-Cinemathek: Freigang aus dem Knast: Als angeblicher Kellner hängt Illias (Moritz Bleibtreu, re.) in der Kneipe seines Bruders Zinos (Adam Bousdoukos) ab.

Freigang aus dem Knast: Als angeblicher Kellner hängt Illias (Moritz Bleibtreu, re.) in der Kneipe seines Bruders Zinos (Adam Bousdoukos) ab.

(Foto: Foto: ap)

Fatih Akin versöhnt in seinem neuen Film diese disparaten Sehnsüchte miteinander. Deshalb ist "Soul Kitchen" ein richtiger Weihnachtsfilm geworden - ein Weihnachtsmärchen sogar, das allerdings ganz lässig daherkommt, mit einem schönen Groove.

Es geht um eine liebenswerte Kneipen-Clique im Hamburger Elbinsel-Stadtteil Wilhelmsburg. Der Deutschgrieche Zinos (Adam Bousdoukos), dem das "Soul Kitchen" gehört, ist der Hausvater; sein Bruder Illias (Moritz Bleibtreu) hängt als angeblicher Kellner dort ab, weil er tagsüber Freigang aus dem Knast hat, solange er Arbeit nachweisen kann. Dann sind da noch die trinkfeste Kellnerin und Malerin Lucia (Anna Bederke), in die sich Illias verliebt; der Kellner Lutz, der mit seiner Rockband im "Soul Kitchen" probt, sowie der großspurig-geniale Koch und Messerkünstler Shayn (Birol Ünel), der - kaum angeheuert von Zinos - die Kartoffelsalat-aus-dem-Eimer-Kneipe in ein Gourmet-Restaurant verwandelt.

Die Metamorphose des "Soul Kitchen" ist nur eine von vielen unglaublichen Wendungen der Geschichte, die abwechselnd Schicksalsschläge (ein Bandscheibenvorfall! das Finanzamt!) und zauberhafte Errettungen (eine wunderbare Krankengymnastin! eine Gratis-Stereoanlage!) für Zinos bereithält.

So bunt wie die Ersatzfamilie, die sich in dessen Seelenküche versammelt, ist auch der Film: komisch, sentimental, manchmal auch platt, derb und vorhersehbar, dann wieder mitreißend ausgelassen - eine Komödie, die gute Laune macht.

Ihre Figuren erscheinen wie alte Freunde, die man gerne trifft, trotz ihrer Schwächen - und obwohl sie wenig Neues zu erzählen haben. Einige werden von Schauspielern verkörpert, mit denen Fatih Akin immer wieder zusammenarbeitet: Moritz Bleibtreu und Birol Ünel waren die Helden von "Im Juli" und "Gegen die Wand", Adam Bousdoukos spielte schon in Akins allerersten Kurzfilmen mit und hat jetzt mit diesem zusammen auch das Drehbuch für "Soul Kitchen" geschrieben. Auch der Kameramann Rainer Klausmann und der Cutter Andrew Bird sind langjährige Partner Akins.

Im Presseheft geben sie und die Darsteller ihre Lieblings-Soul-Songs an, wie man einen Clubausweis herzeigt - das soll das gemeinsame Lebensgefühl illustrieren. Weil Akin also auf zwei Ebenen und ohne ironische Distanz vom Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe und einem Ort erzählt, ist "Soul Kitchen", der beim Festival von Venedig in diesem Jahr den Spezialpreis der Jury bekam, auch als Heimatfilm gelungen.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, was den Film von anderen Heimatfilmen unterscheidet.

Neue Heimat

Im Video: Weltberühmt werden, eine Kneipe zum Gourmettempel machen, Afrika retten und Spaß im Altersheim haben. Alles Pläne, die zumindest im Kino diese Woche funktionieren. Ob die Filme dazu allerdings ihr Eintrittsgeld wert sind, ist eine andere Frage. Weitere Videos finden Sie hier

Das unterscheidet ihn von vielen anderen "Heimat"-Filmen, die einander durch möglichst skurrile Schauplätze und Figuren in der Provinz überbieten. "Heimat", das ist dann all das, was - und wo - die Regisseure selbst nicht sind: die Dörfer und Kleinstädte, aus denen sie wegzogen, als sie ihr Studium begannen; die Menschen, die sie als Kinder schon merkwürdig fanden, wenn sie ihnen bei Familienfesten oder in der Nachbarschaft begegneten.

Bezeichnend, dass die überzeugendsten neuen Deutschland-Erzählungen wie Anti-Heimatfilme anmuten - die Filme von Christian Petzold, die in Transiträumen spielen, an Orten, die eine Verwurzelung unmöglich machen.

Auch Fatih Akin macht sich und seinen Zuschauern nichts vor. Klar, "Soul Kitchen" ist eine weitere Liebeserklärung an Hamburg, "seine" Stadt, mit ihren Schmuddel- und Kuschelecken. Areale in Zentrumsnähe, die sich der Gewinnmaximierung entziehen, sind jedoch vom Verschwinden bedroht, auch das "Soul Kitchen" könnte bald abgerissen werden.

Märchenhaft überdrehte Lebensfreude

Ein alter Schulfreund von Zinos (Wotan Wilke Möhring) spekuliert mit Immobilien und bietet diesem an, sein Lokal zu kaufen. Weil Zinos Finanz- und Gesundheitsamt im Nacken sitzen, und er außerdem am liebsten bei seiner Freundin Nadine in Shanghai wäre, wo diese gerade eine Auslandskorrespondentenstelle antritt, ist er versucht, das Angebot anzunehmen.

Was der "Freund" nicht erzählt: Er will das Industriegelände aufkaufen, um dort eine Apartmentanlage zu errichten. Das übliche Spiel der Gentrification, bei dem Stadtteile "veredelt" werden und ihre alten Bewohner verschwinden. Wie die Orte aussehen, die auf diese Weise entstehen, zeigt Fatih Akin am Anfang seines Films: Das Edelrestaurant, in dem Nadines feine Familie Abschied feiert, könnte ebenso gut in München oder Berlin stehen. Ähnlich durchgestylt und verwechselbar sieht auch die Umgebung des Lokals aus.

Dem stellt Fatih Akin die Buntheit seiner Multikulti-Ersatzfamilie entgegen - und eine ehrlicherweise ins Märchenhafte überdrehte Lebensfreude. Diese wird ebenso kräftig ausgemalt wie die Tragik in seinen früheren Filmen, etwa der Liebesschmerz in "Gegen die Wand". Der Soundtrack mit Songs von Quincy Jones, Kool & the Gang und den Isley Brothers spielt dabei keine geringe Rolle.

Wichtig sind auch die Anspielungen aufs Kino - Koch Shayn als eine Art Samurai -, weil ja auch das Kino eine Heimat ist. Und wenn bei einer Feier im "Soul Kitchen" ein Aphrodisiakum in der Nachspeise eine Orgie auslöst, dann ist das einerseits ein etwas abgenutzter Witz - Variante spätpubertäre Jungsphantasien -, andererseits aber auch die konsequente Abkehr vom deutschen Küchentischrealismus. "Soul Kitchen" ist ein Heimatfilm in der Möglichkeitsform.

Darin wird das Unwahrscheinliche wahr, darin können Zinos und seine Freunde dem kühlen Zeitgeist widerstehen. Ein Märchen? Nach heftigen Protesten der betroffenen Künstler hat Hamburg gerade den Rückkauf des traditionsreichen Gängeviertels von einem holländischen Investor beschlossen - als ob sich die Stadt mit "ihrem" Regisseur verbündete. Schließlich ist Weihnachten!

SOUL KITCHEN, D 2009 - Regie: Fatih Akin. Buch: F. Akin, Adam Bousdoukos. Kamera: Rainer Klausmann. Schnitt: Andrew Bird. Mit: Adam Bousdoukos, Moritz Bleibtreu, Birol Ünel, Pheline Roggan, Anna Bederke, Wotan Wilke Möhring, Dorka Gryllus, Monica Bleibtreu, Udo Kier. Pandora, 99 Minuten.

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