Im Kino: Poll:Das schreckliche Mädchen

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Willkommen im Gruselkabinett: Oda kommt mit ihrer toten Mutter auf ein Gut, wo Edgar Selge als ihr Vater leidenschaftlich Leichen zersägt: "Poll" ist ein größenwahnsinniger Film über Liebe und Todesbesessenheit.

Martina Knoben

Es passiert nicht oft in einem deutschen Film, dass man als Erstes vom Bühnenbild erzählen will. Für "Poll" hat Silke Buhr ein irrwitziges Haus auf Stelzen in die Ostsee getrieben, einen Säulenbau am Ende einer Mole, dessen hölzerne Anbauten auf scheinbar streichholzdünnen Pfählen im Meer stehen. Das Ganze wirkt so wackelig und morsch im Inneren, als könnte es jede Sekunde zusammenbrechen.

Sie schreie, schreie stumm in ihr Tagebuch, schreibt Oda: Paula Beer als hinreißender (und sehr lebendiger) Gegenpol zum todesbesessenen Gut Poll. (Foto: epd)

Realistische Architektur ist das nicht. Seinen "ältesten Darsteller" hat Regisseur Chris Kraus dieses verrückte Spukhaus genannt. Es mag ein überdeutliches Bild sein für die sterbende Welt, von der "Poll" erzählt - die der deutschen Oberschicht im Baltikum kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs -, aber es ist ein überzeugendes: Da rottet ein grotesk zusammengeschustertes Gebilde seinem sicheren Einsturz entgegen. Der ganze Film, er spielt im Sommer 1914, wirkt wie in das giftiggelbe Licht des Untergangs getaucht.

Das Haus, das Kraus eigens hat bauen lassen an einem estnischen Strand - es brachte Silke Buhr einen Bayerischen Filmpreis ein für die beste Szenografie -, ist bezeichnend für den Gestus, mit dem der Regisseur inszeniert.

Dass Kraus ein besessener Erzähler ist, er auch nicht immer zwingend alles richtig machen will, hat er schon in seinem Regiedebüt "Scherbentanz" (2002) und in "Vier Minuten" (2006) bewiesen. Mit "Poll" wagt er noch mehr: ein Historiendrama, das pompös und pathetisch ist, bei manchen Nebenhandlungen auch schon mal den Faden verliert. Der Film will großes Kino sein und kann in seinen besseren Momenten tatsächlich mit internationalen Großprojekten mithalten. Da ist ein Wahnsinn zu spüren, der an Werner Herzog erinnert, Mut zur Kraftmeierei, die Bereitschaft zum Risiko überhaupt. Daran fehlt es oft im deutschen Kino.

Der Film basiert auf den Lebenserinnerungen der heute fast vergessenen Lyrikerin und Journalistin Oda Schaefer (1900-1988), die eine Großtante des Regisseurs war.In ihren Gedichten, Naturlyrik, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr zeitgemäß schien, spricht sie vom Tod als dem großen Verwandler; und davon will auch "Poll" erzählen. Einen Besuch der damals 14-jährigen Oda auf dem Familiengut an der Ostsee, den die Schriftstellerin in ihren Memoiren erwähnt, schmückt Kraus zum biografischen Schlüsselerlebnis aus. Umgeben vom Sterben lässt er Oda zu sich selbst und zum Schreiben finden. Vergehen und Werden, so hat sie es auch in ihren Gedichten geschrieben, gehen ineinander über.

Nun ist der Historienfilm ein durch und durch künstliches Genre, da stört eine solche Fabulierlust nicht, im Gegenteil. Der Zug ins Groteske, ja Monströse, den Chris Kraus seiner Geschichte verleiht, passt zu den ungeheuerlichen Veränderungen, die sich ankündigen: den Stürmen des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution; auch der Faschismus mit seinen Menschenversuchen ist in der Figur von Odas Vater Ebbo, einem Arzt und besessenen Hirnforscher, angelegt.

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Edgar Selge spielt ihn als mad scientist, der es gar nicht erwarten kann, dass die Truppen des Zaren ihm wieder getötete Anarchisten vorbeibringen, deren Köpfe er in seinem Laboratorium seziert, um den Ort des Bösen zu finden. Überdeutlich wird die Omnipräsenz des Todes auf Poll formuliert. Als Oda mit der Leiche ihrer Mutter dort ankommt - die beiden lebten in Berlin, nun soll die Mutter in der Heimaterde begraben werden -, bringt sie dem bewunderten Vater ein siamesisches Zwillingspaar in Spiritus als Liebesgabe mit. Willkommen im Gruselkabinett!

Verästelungen von Gewalt und Tod

Während diese Karikatur eines monströsen deutschen Vaters also leidenschaftlich Tote zersägt, hat seine zweite Frau Milla eine Affäre mit dem Verwalter des Gutes Mechmershausen (Richy Müller). Jeanette Hain verleiht ihrer Milla die Schönheit einer Wahnsinnigen, etwas Herrisches und gleichzeitig Fragiles; eine somnambule Traurigkeit umgibt sie wie ein Mantel. Kraus hat ein Händchen für Schauspieler (vor allem Schauspielerinnen), auch das hat er in seinen früheren Arbeiten bewiesen. Die Entdeckung dieses Films ist die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten gerade einmal 14 Jahre alte Newcomerin Paula Beer, die (ebenso wie Edgar Selge) einen Bayerischen Filmpreis für ihre Darstellerleistung bekommen hat.

Sie spielt Oda großartig, eine blutjunge Unschuld in einem Beziehungsgeflecht, das in allen seinen Verästelungen von Gewalt und Tod geprägt ist. Auch Oda ist davon berührt. Als sie einen verwundeten Esten in der Gutskapelle entdeckt, versteckt sie ihn auf dem Dachboden des Laboratoriums. Aus pubertärer Schwärmerei? Oder aus einer morbiden Lust heraus, diesen Fremden (Tambet Tuisk), der sich nur "Schnaps" nennt, zu "nähen", so wie ihr Vater die Wunde eines verletzten Arbeiters genäht hat? "Schnaps" ist Odas erste Liebe und ihr erster Menschenversuch gleichermaßen. Paula Beer gestaltet dieses Mädchen als bezauberndes, unheimliches, sehr widersprüchliches Wesen, das so sehr aus Fleisch und Blut ist, dass es die morbide Energie in Poll transformieren kann. Die kristalline Härte, die sie dennoch ausstrahlen kann, mildert das Kolportagehafte der Geschichte, und sie macht klar, dass es - zum Glück - keinen Vollzug der Liebe zu "Schnaps" geben kann.

Dass "Poll" aus der Perspektive einer 14-Jährigen erzählt, lässt leider das Historische sehr diffus wirken. Optisch schafft der Film eine Spannung zwischen bildmächtigen Panoramen des baltischen Landes und dem Familienkammerspiel. Kraus hat sich mit einer potenten Frauenriege umgeben, dass das Wagnis "Poll" gelingt, verdankt er in großem Maß ihnen: Paula Beer und Jeanette Hain natürlich, aber auch Silke Buhr und Daniela Knapp an der Kamera, nur die aufdringliche Musik von Annette Focks stört.

So ist "Poll", der in seiner Gesamtheit so größenwahnsinnig und zusammengezimmert wirkt wie das Gutshaus des Titels, am Ende auch ein Frauenfilm, der wie schon "Vier Minuten" von einer gelungenen Emanzipation erzählt.

POLL, D/A/Estland 2010 - Regie, Buch: Chris Kraus. Kamera: Daniela Knapp. Schnitt: Uta Schmidt. Mit: Paula Beer, Edgar Selge, Tambet Tuisk, Jeanette Hain, Richy Müller, Enno Trebs. Piffl Medien, 133 Minuten.

© SZ vom 02.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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