Im Kino: "Flug 93":Abheben in die Twilight Zone

Blutiger Dienstag: In seinem Film "Flug 93" lässt Paul Greengrass die Zuschauer an den Schrecken des 11. September teilhaben - auch wenn niemand weiß, ob die Schrecken hier tatsächlich die des 11. September waren.

FRITZ GÖTTLER

Die Vorgaben waren ziemlich rigoros für diesen Film, der versucht, etwas vom Geschehen des 11.September auf die Kinoleinwand zu bringen. Keine Hollywoodstars, keine Hollywoodhelden, keine Hollywooddialoge, keine Hollywooddramaturgie. Keine Blockbuster-Dimension - so wie es im August Oliver Stones "World Trade Center" versucht mit Nicolas Cage -, sondern ein kleiner Film, Budget 15 bis 20 Millionen Dollar, der sich auf das konzentriert, was in der Boeing 757, dem vierten an diesem Tag entführten Flugzeug, passiert sein mag. Und dafür nicht mehr Zeit braucht als damals - um 8.42 Uhr hob der Flug United 93 vom Flugplatz Newark ab, eineinhalb Stunden später schlug er auf einem Acker nahe Shanksville, Pennsylvania auf. Sein Ziel war Washington gewesen.

Im Kino: "Flug 93": Wenige Sekunden vor dem Gegenangriff und dem zum geflügelten Wort gewordenen: "Let´s roll"

Wenige Sekunden vor dem Gegenangriff und dem zum geflügelten Wort gewordenen: "Let´s roll"

(Foto: Foto: ddp)

Nur wenige Tage nach dem 11.September hatte Paul Greengrass die Idee, man müsse einen Film über diesen vierten Flug machen. Da war er gerade daran, seinen Film "Bloody Sunday" fertig zu stellen, über einen Protestmarsch in Dublin am 30. Januar 1972, der plötzlich zu einem Massaker eskalierte, in dem verwirrte, desinformierte britische Soldaten zahlreiche Bürger niederknallten. "Bloody Sunday" wurde gelobt, weil er mit kühler dokumentarischer Technik, Handkamera und effektivem Schnitt, ein chaotisches Geschehen choreografierte, einen dramatischen "Dabeisein"-Effekt erzeugte. Die Verbindung zum 9/11-Geschehen ist evident, das mörderische Chaos, die Versuche, in einer nicht mehr kontrollierbaren Situation doch wieder Handlungsmacht zu gewinnen. Was mit einem Moment von Verzögerung zu tun hat - Flug 93 konnte erst mit vierzig Minuten Verspätung starten, die überrumpelten Passagiere wussten daher, zu welch mörderischem Effekt die drei anderen Flugzeuge benutzt worden waren.

Aber kann es einen "Dabeisein"-Effekt geben für das, was am 11.September passierte, in den Flugzeugen, in den brennenden Türmen des World Trade Center? Noch immer sprengt dieses Ereignis die Vorstellungskraft, entzieht sich der Einordnung, der Erzählung. Der Film ist in den USA mit gemischten Gefühlen aufgenommen worden, seit er im April das Tribeca Filmfestival eröffnete, eher mit patriotischem Enthusiasmus, einigen Spuren Selbstmitleid, aber auch mit Erschütterung und Verstörung. Der Film kommt zu früh, sagen die einen, noch ist Amerika nicht so weit, dieses Geschehen im Kino zu verarbeiten. Und hat, sagen andere, dieses Geschehen im kommerziellen Kino überhaupt etwas zu suchen - das so offensichtlich vom Voyeurismus lebt? "United 93" ist Kino pur, er zeigt etwas, bei dem es keine Zuschauer, keine Zeugen gab - nur Beteiligte, von denen keiner überlebte. Er zeigt es als eine Möglichkeit, 9/11 nicht nur als hilflose Opfer einer Attacke zu erleben, eine Art Alamo-Effekt - zum Helden zu werden gerade in auswegloser Situation, in der Niederlage, im Tod. Einem Geschehen, einer Handlung einen Sinn verleihen, die im Grund ins Absurde driftet.

Es gibt ein merkwürdiges Ineinander von Distanzierung und Annäherung bei diesem Film, er ist eben nicht im Innern des amerikanischen Studiosystems entstanden. Der Regisseur ist Brite und er hat den Film in den Pinewood Studios gedreht. Als er "United 93" vorbereitete, passierten die Attentate in der Londoner Untergrundbahn - und man sieht dem Film an, dass er durchaus über das singuläre Ereignis hinausgeht, dass er einen Kontext sieht und eine Nachwirkung bis zum heutigen Tage. Es gab ein zweites Hijacking an diesem Tag, sagt Greengrass, außer dem der vier Flugzeuge: "Das Hijacking einer Religion durch ein paar junge Männer, die sie verdrehten und pervertierten, um einen Glauben und eine Ideologie zu schaffen, die das Massakrieren unschuldiger Menschen rechtfertigen - und dieses Hijacking ist immer noch virulent. Das geht immer noch weiter heute, und es wird sehr schwer für uns, herauszukriegen, was wir tun müssen, um damit fertig zu werden." Der Kampf im Flugzeug gegen die Attentäter am Ende ist daher auch nicht heroisch veredelt, es ist eine wirre, brutale Attacke.

Der Film entstand unter Beteiligung der Verwandten der Passagiere, die in dem vierten Flugzeug getötet wurden, sie haben alle ihre Zustimmung gegeben zu dem Projekt, und sie haben den fertigen Film "abgenommen". Greengrass hat seine Schauspieler zu den Familien geschickt, dort haben sie sich durch Erzählungen, durch Home-movie-Aufnahmen mi den Menschen vertraut gemacht, die sie spielen sollten. Ein paar der Leute vom beteiligten Bodenpersonal spielen sich selber, zum Beispiel Ben Sliney, der Chef der amerikanischen Flugüberwachung FAA.

Natürlich ist der Film dennoch keine Dokumentation, natürlich sind auch hier die Gesetze von innerer Beteiligung und Identifikation wirksam. Natürlich gibt es eine Aura des Heroischen, die schon früh einige der Figuren umgibt, die später dann wirklich die Initiative ergreifen. Und irgendwann wird uns gar suggeriert, einer der vier Attentäter sei ein Zauderer, habe am Sinn der - verspäteten - Aktion gezweifelt und sich nicht entschließen können, das Zeichen zum Angriff zu geben. Was in "Bloody Sunday" im Zusammenspiel der Menschen in der Stadt Dublin so gut funktionierte, diese merkwürdig falsche, dennoch unglaublich dichte Authentizität, erzeugt in der geschlossenen Situation von "United 93" immer wieder Leerlauf. "Diese Leute waren die Ersten, die in die Post-9/11-Welt eintraten", sagt Paul Greengrass, und das klingt, als spräche er von einer neuen Twilight Zone, "zu einem Zeitpunkt, da wir noch auf den Bildschirm starrten und uns fragten, was da eigentlich vor sich ging - etwas Schreckliches, wahrscheinlich Terrorismus, aber wir wussten es nicht -, haben diese Leute es bereits gewusst. Sie konnten sehen, womit sie es da zu tun hatten."

Am intensivsten wird diese neue Post-9/11-Welt am Boden sichtbar - in den riesigen, dabei so schrecklich nutzlosen Überwachungszentralen mit ihren Tausenden Bildschirmen und Dutzenden konfuser Entscheidungsträger und ihrem "Ich werde Sie auf dem Laufenden halten ..." Fassungslos sieht man das Chaos der Leuchtpünktchen, die den Luftverkehr über Amerika symbolisieren. Hier ist keine Kontrolle mehr möglich. Hier hilft nur noch der totale Stillstand. Aber das ahnten wir irgendwie seit "Dr.Seltsam".

Hier geht´s zum Film-Trailer

UNITED 93, USA 2006 - Regie, Buch: Paul Greengrass. Kamera: Barry Ackroyd. Musik: John Powell. Schnitt: Clare Douglas, Richard Pearson, Christopher Rouse. Mit: David Alan Basche, Liza Colòn-Zayas, Denny Dillon, April Telek, Olivia Thirlby, J. J. Johnson, Gary Commock, Polly Adams. UIP, 110 Minuten.

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